Oliver Twist
hinauszuschieben?
Mr. Losberne wohnte bei ihnen und wollte auch die beiden nächsten Tage bleiben. Aber Rose kannte nur zu gut die ungestüme Art des alten Herrn und getraute sich nicht, ihn so ohne weiteres zum Mitwisser ihres Geheimnisses zu machen. Das würde nur dann gehen, sagte sie sich, wenn jemand, der mehr Lebenserfahrung hätte als sie, ein Wort für Nancy einlegen könnte. Sie beschloß daher, vorsichtig zu sein, selbst für den Fall, daß es nötig wäre, Mrs. Maylie mit ins Geheimnis zu ziehen, denn es war vorauszusehen, daß der erste Gedanke der alten Tante sein würde, sich mit dem würdigen Herrn Doktor Losberne über den Fall zu besprechen. Flüchtig kam ihr der Gedanke, Harry zum Beistand zu rufen; aber die Erinnerung an den letzten Abschied bei ihr ließ es ihr unwürdig erscheinen, sich an ihn zu wenden.
Rose verbrachte eine schlaflose unruhige Nacht. Bald faßte sie einen Entschluß, dann verwarf sie ihn wieder; und erst, nachdem sie noch den ganzen folgenden Tag mit sich zu Rate gegangen wurde es ihr klar, daß nichts andres übrig bleibe, als doch Harrys Rat in Anspruch zu nehmen.
›Wenn es für ihn schmerzlich sein muß‹, dachte sie, ›zu uns zurückzukommen, wie schmerzlich wird es erst für mich sein. Aber vielleicht kommt er gar nicht, sondern schreibt. Oder er kommt und geht einer Begegnung mit mir aus dem Weg, wie er es ja auch gemacht hat, als er abreiste.‹ Rose ließ die Feder fallen, die sie zur Hand genommen, und der Gedanke schoß ihr durch den Kopf: ›Freilich hatte ich mir damals kaum gedacht, daß er so handeln würde – ‹
Sie hatte die Feder wieder zur Hand genommen und ein paarmal angesetzt, da kam Oliver in atemloser Hast undso erregt zu ihr ins Zimmer gestürzt, daß sie sofort von neuem in Angst und Unruhe verfiel.
»Warum kommst du so erregt herein?« fragte sie und sprang auf.
»Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist, als müßte ich ersticken«, keuchte Oliver. »O Gott im Himmel, der Gedanke, ihnen endlich alles erzählen zu dürfen, damit sie erfahren, daß ich immer nur die Wahrheit gesprochen habe, dieser Gedanke benimmt mir fast den Atem.«
»Es ist mir niemals in den Sinn gekommen, anzunehmen, du seist jemals von der Wahrheit abgewichen«, sagte Rose und beruhigte ihn. »Aber was meinst du eigentlich? Von wem sprichst du denn?«
»Ich habe den Herrn gesehen«, erwiderte Oliver, kaum imstande, deutlich zu reden, »den Herrn, der so gütig zu mir war: Mr. Brownlow, von dem ich Ihnen so oft erzählt hatte.«
»Wo?«
»Er ist aus einem Wagen gestiegen«, erklärte Oliver, und die Freudentränen drängten sich ihm in die Augen, »und ist in ein Haus hineingegangen. Ich habe nicht mit ihm gesprochen – ich konnte nicht, er hat mich nicht gesehen, und ich habe so gezittert, daß ich gar nicht bis zu ihm gekommen wäre. Aber Mr. Giles hat für mich gefragt, ob der Herr in dem Hause wohne, und die Leute haben ihm gesagt, es sei der Fall. Hier sehen Sie«, sagte Oliver und entfaltete einen kleinen Zettel, »hier steht’s; hier steht die Adresse – ich muß auf der Stelle hin. O Gott, was werd’ ich bloß sagen, wenn ich ihn wiedersehe!«
Sich zur Ruhe zwingend, las Rose die Adresse, die Craven Street Strand lautete, und sofort schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, diesen Zufall zu ihrem Vorteil auszunützen.
»Geschwind«, rief sie, »bestelle unten, man solle einen Wagen holen, und halte dich bereit, mitzufahren. Ich werde dich selbst, ohne eine Minute zu verlieren, hinführen. Nur muß ich meiner Tante zuvor sagen, daß wir eine Stunde ausfahren; dann aber heißts eilen.«
In weniger als fünf Minuten befanden sie sich auf der Fahrt unterwegs nach Craven Street. Rose ließ Oliver in der Kutsche zurück, um den alten Herrn auf seinen Besuch vorzubereiten, schickte durch den Diener ihre Karte hinauf und ließ Mr. Brownlow bitten, ihr in einer dringenden Angelegenheit sogleich für ein paar Minuten Gehör zu schenken.
Der Diener kam mit der Meldung zurück, Mr. Brownlow lasse bitten.
Miß Maylie folgte ihm in den ersten Stock und wurde dort von einem ältern wohlwollenden Herrn empfangen, der einen Rock aus flaschengrünem Stoff trug. Unweit von ihm saß ein andrer alter Herr in Nankinghosen und Gamaschen, der weniger wohlwollend aussah und die Hände auf den Griff eines dicken Stockes stützte und darauf das Kinn.
»Oh, oh«, rief der alte Herr im flaschengrünen Anzug und sprang höflich auf, »bitte vielmals um Verzeihung, gnädiges
Weitere Kostenlose Bücher