Oliver Twist
ihrem Mund die Unterredung mit an, die sie mit Nancy gehabt und die ihn in nicht geringes Erstaunen, ja sogar in Schrecken versetzte.Der alte Herr lobte Rose und sagte, es sei klug von ihr gewesen, daß sie bisher noch niemand andern ins Vertrauen gezogen, und erklärte sich bereit, mit dem wackern Mr. Losberne selbst über den Fall in ernster Weise zu sprechen. Um bald Gelegenheit zur Ausführung dieser Ansicht zu bekommen, verabredeten sie, Mr. Brownlow solle abends gegen acht im Hotel vorsprechen und Rose ihre Tante vorsichtig in allem unterrichten, was sich zugetragen habe. Sodann kehrte Rose mit Oliver wieder nach Hause zurück.
Rose hatte das Temperament des Doktors nicht im geringsten überschätzt: Nancys Erzählung war ihm kaum bekanntgeworden, da stieß er einen Hagel von Drohungen und Verwünschungen aus, wollte die arme Nancy als erstes Opfer seiner Rache dem zwiefachen Scharfsinn der Firma Blathers & Duff überantworten und stülpte bereits den Hut auf den Kopf, um spornstreichs das würdige Häscherpaar zu holen. Zweifellos hätte er seinen Plan auch ausgeführt, wenn er nicht zum Teil durch Mr. Brownlow, zum Teil durch Gründe und Vorstellungen zurückgehalten worden wäre, die ihn am schnellsten und besten zur Raison brachten.
»Was aber zum Teufel soll denn geschehen!« rief er ungestüm, als sie sich wieder zu den beiden Damen gesellten. »Sollen wir diesen Strolchen vielleicht eine Dankadresse überreichen mit der Bitte, ein paar hundert Pfund pro Kopf als Zeichen unsrer Hochachtung entgegenzunehmen?«
»Das gerade nicht«, versetzte Mr. Brownlow lachend; »aber vorsichtig müssen wir vorgehen, vorsichtig und behutsam.«
»Jawohl, vorsichtig und behutsam«, schimpfte der Doktor. »Am liebsten möcht’ ich die ganze Bande gleich –«
»Überlegen wir erst«, fiel ihm Mr. Brownlow in dieRede, »ob’s unsern Zweck fördert, wenn wir sogleich gegen sie vorgehen.«
»Welchen Zweck?« fragte der Doktor.
»Nun den: Olivers Eltern ausfindig zu machen, das Erbe für ihn wiederzuerlangen, um das er, wenn die Geschichte wahr ist, schmählich betrogen wurde.«
»Ach so«, rief Mr. Losberne und fächelte sich mit seinem Taschentuch Kühlung zu, »daran habe ich allerdings nicht gedacht.«
»Nun also«, fuhr Mr. Brownlow fort, »selbst wenn wir das arme Mädchen außer Betracht lassen und annehmen, wir könnten wirklich die Verbrecher der Polizei überantworten, ohne ihre Sicherheit zu gefährden, – was würden wir erreichen?«
»Ein paar von der Bande an den Galgen bringen«, rief der Doktor; »den übrigen zur Deportation verhelfen!«
»Sehr gut«, versetzte Mr. Brownlow lächelnd, »aber ich glaube, die Zeit wird das alles von selber tun. Wir dürfen nicht vorgreifen, wenn wir nicht Olivers Interesse gefährden wollen.«
»Wieso?«
»Es ist doch klar, daß wir dem Geheimnis nur mit großer Mühe auf die Spur kommen können und erst dann, wenn wir diesen gewissen Monks dingfest machen, – und das können wir bloß durch List. Wir müssen ihn zu fassen suchen, wenn er nicht inmitten des Diebsgesindels weilt. Wenn wir ihn ohne weiteres festnehmen lassen, so haben wir schließlich keinen Beweis gegen ihn. Er ist unsres Wissens nach mit der Bande nicht einmal in irgendwelchem Zusammenhang, was ihre Räubereien und Einbrüche anbelangt. Wenn er überhaupt nicht ganz freigesprochen wird, so ist es doch höchst wahrscheinlich, daß er im schlimmsten Fall ein paar Wochen Arrest kriegt; aber zum Sprechenwürden wir ihn dann nicht bringen können; sein Mund wäre uns für immer verschlossen.«
»Gut«, gab der Doktor zu, »aber halten Sie es vielleicht für vernünftig, das dem Mädchen gegebene Versprechen zu halten? Es ist ja vielleicht in bester Absicht gegeben worden, in Wirklichkeit aber –«
Mr. Brownlow kam Rose, die das Wort ergreifen wollte, zuvor: »Das Versprechen wird gehalten werden«, sagte er. »Mit dem Weg, den wir einzuschlagen haben, kollidiert das nicht im geringsten. Ehe wir uns aber für etwas Bestimmtes entschließen, wird es vor allem notwendig sein, mit dem Mädchen zu sprechen, um uns zu vergewissern, ob sie uns diesen Monks zeigen will, oder ob es auf andre Weise möglich sein wird, falls sie uns die Bitte abschlägt, seine Person irgendwie festzustellen. Früher als nächsten Sonntag können wir sie nicht treffen. Heute haben wir Dienstag. Ich rate: verhalten wir uns in der Zwischenzeit ganz ruhig und sprechen wir selbst vor Oliver kein Wort über diese Dinge.«
Zwar
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