Oliver Twist
haben wird, daß es unter Gaunern sein Leben verbringt. Seit ich denken kann und meine Augen die Straßen Londons gesehen haben, habe ich kein besseres Leben oder freundlichere Worte gekannt, als ihm von diesen Leuten, die er ja kennt, zuteil wurden. Ja, scheuen Sie nur zurück vor mir, Fräulein! Wenn ich auch jünger bin, als mein Aussehen sagen mag, so bin ich an so etwas gewöhnt. Selbst die ärmsten Frauen weichen vor mir zurück, wenn ich meinen Weg durch ihre Straßen nehme.«
»Das sind ja schreckliche Dinge«, rief Rose und wich unwillkürlich noch weiter zurück.
»Danken Sie Gott auf den Knien, Fräulein, daß Sie Freunde besessen haben, die Sie in Ihrer Kindheit pflegten und behüteten, daß Sie niemals Frost, Hunger, Verbrechen, Durst und Trunkenheit und noch viel schlimmere Dinge, als diese, kennengelernt haben, wie sie mir beschieden gewesen sind von meiner Kindheit an. Die Gasse und der Rinnstein sind meine Wiege gewesen, so wie sie auch mein Totenbett sein werden.«
»Sie tun mir entsetzlich leid«, sagte Rose schluchzend. »Es zerreißt mir das Herz, Sie so reden zu hören.«
»Gott segne Sie für Ihre Güte«, erwiderte Nancy leise. »Wenn Sie wüßten, was ich manchmal ausstehe und wie mir oft zumute ist, dann würden Sie mich noch mehr beklagen. Ich habe mich von den Leuten weggestohlen, weil sie mich ermorden würden, wenn sie wüßten, daß ich hier bin, um Ihnen zu erzählen, was ich erlauscht habe. – Kennen Sie einen Mann namens Monks?«
»Nein.«
»Er kennt aber Sie«, fuhr Nancy fort, »und wußte offenbar, daß Sie hier wohnen; denn nur, weil er die Adresse, während ich heimlich zuhörte, nannte, konnte ich mich hierher finden.«
»Ich habe den Namen nie gehört«, sagte Rose.
»Dann führt er unter unsresgleichen einen andern Namen. Ich habe mir das übrigens gleich gedacht. Vor einiger Zeit, kurz nachdem Oliver in der Nacht – damals, wo eingebrochen wurde – einzusteigen gezwungen wurde, hab ich aus Argwohn gegen diesen Monks heimlich einer Unterredung zugehört, die zwischen ihm und Fagin in der Nacht stattfand, und aus der erfuhr ich, daß Monks – der Mann, Sie wissen, nach dem ich Sie gefragt habe –«
»Ja«, sagte Rose, »ich verstehe.«
»– daß Monks«, fuhr Nancy fort, »Oliver zufällig mit zwei von unsern Jungen an dem Tag gesehen hatte, als er uns verlorenging, und in ihm sofort jenes Kind erkannte, auf dessen Fährte er war. Nur konnte ich damals nicht erfahren, weshalb. Er einigte sich mit Fagin dahin, daß dieser für Oliver, falls er ihn wiederfände, eine Summe Geldes bekommen sollte, und außerdem noch eine viel größere, wenn es ihm gelänge, einen Dieb aus ihm zu machen. Monks mußte dabei einen persönlichen Zweck im Auge haben.«
»Was denn für einen Zweck?« rief Rose.
»Er hat meinen Schatten an der Wand gesehen, als ich lauschen wollte«, erzählte Nancy, »und außer mir werden es wohl nicht viele zuweg bringen, sich so rechtzeitig dünne zu machen, ohne entdeckt zu werden. Mir ist es gelungen: erst gestern abend habe ich ihn wiedergesehen.«
»Was hat sich denn gestern abend zugetragen?«
»Er ist wiedergekommen und mit dem Juden die Treppe hinaufgegangen. Ich hatte mich so verhüllt, daß mich mein Schatten nicht verraten konnte, und dann wieder an der Tür gelauscht. Die ersten Worte, die Monks sagte, waren: ›Die einzigen Beweise also für die Herkunft des Jungen liegen jetzt auf dem Grund des Flusses, und die alte Vettel, die sie von seiner Mutter bekam, modert in ihrem Sarg.‹ Daraufhin lachten beide und priesen sich glücklich, daß der Plan so günstig ausgegangen sei. Monks, der dann noch mehr von dem Jungen erzählte und sehr erregt war, sagte, er könne es kaum erwarten, daß er schon das Geld des jungen Burschen in Sicherheit hätte. Lieber noch hätt’ er es auf eine andre Weise bekommen, denn es hätte ihn riesig gefreut, wenn seines Vaters niederträchtiges Testament zu Schaden geworden wäre dadurch, daß der Junge von einem Kerker in den andern gewandert und schließlich vielleicht sogar an den Galgen gekommen wäre. Für Fagin müsse es doch eine Kleinigkeit sein, den Burschen so weit zu bringen, wenn er erst einmal einen hübschen Profit aus der Geschichte gezogen hätte.«
»Was sind das für unerhörte Dinge?« rief Rose.
»Was ich Ihnen erzählt habe, Fräulein, ist volle Wahrheit«, beteuerte Nancy. »Unter allerhand Flüchen und Schwüren sagte er noch, wenn er, ohne seinen Hals dabei in Gefahr zu bringen,
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