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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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städtischen Armenhaus, der aufeinem Pfosten vor dem Hause saß und ein Butterbrot verzehrte.
    »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Oliver schließlich, da er niemand anders sehen konnte, »haben Sie vielleicht geklopft?«
    »Ja, mit die Fieß an die Tür g’stoßen hab i«, erwiderte der fremde Waisenknabe.
    »Wünschen Sie vielleicht einen Sarg?« fragte Oliver unschuldig.
    »Du wirst bald selber einen brauchen«, war die zornige Antwort, »wenn du dir solche Frechheiten mit deinem Vorgesetzten herausnimmst. Du weißt vielleicht gar nicht, wer ich bin«, fuhr der Waisenknabe fort und erhob sich würdevoll von seinem Sitz.
    »Nein, Sir«, gab Oliver zu.
    »Ich bin Mr. Noah Claypole«, sagte der Waisenjunge, »und du bist mein Untergebener. Mach die Fensterläden auf, junger Hund!« Bei diesen Worten versetzte »Mr.« Claypole Oliver einen Tritt und schritt mit würdevoller Miene in die Werkstätte. Für einen jungen Herrn mit großem Schädel und kleinen Mausaugen, von schlottriger Gestalt und einem Breigesicht ist es nicht leicht, sich ein würdevolles Air zu geben. Aber ganz besonders schwierig ist es, wenn zu diesen persönlichen Vorzügen noch eine rote Nase und gelbe Kniehosen hinzukommen.
    Nachdem Oliver die Fensterläden entfernt und bei seinem Bemühen, sie beiseite zu stellen, eine Fensterscheibe zerbrochen hatte, wurde er beim Wegschleppen der übrigen Vorfenster gnädigst von Mr. Noah unterstützt, der ihm dabei als Trost die Versicherung gab, er würde es »mordsmäßig erwischen«. Bald darauf kam Mr. Sowerberry herunter, und sogleich erschien auch Mrs. Sowerberry. Und richtig ging Mr. Noahs Prophezeiung in Erfüllung, d. h.,Oliver kriegte es wirklich und folgte dann seinem jugendlichen Amtsgenossen die Treppe hinunter zum Frühstück.
    »Komm näher zum Feuer«, sagte Charlotte. »Ich hab’ dir ein Stückel Speck aufg’hoben von dem Herrn seinem Frühstück, Oliver, mach die Tür zu hinter Mr. Noah und nimm dir die Reste, die ich dir dorthin gestellt hab’. Da hast deinen Tee, nimm dir ihn und scher dich zu der Kisten dort und trink ihn – aber a bissel rasch gefälligst. Du mußt nachher auf den Laden achtgeben, verstanden?«
    »Verstanden, Zuchthäusler?« wiederholte Noah Claypole.
    »Jessas, Jessas, Noah!« rief Charlotte. »Bist du aber heut lustig; laß doch den Bengel in Ruh.«
    »In Ruh lassen?« sagte Noah. »Der wird schon sowieso g’nug in Ruh g’lassen. Den lassen sein Vater und seine Mutter schon sowieso in Ruh. Seine ganze Verwandtschaft laßt ihn schon in Ruh. Was, Charlotte? Hihihi!«
    Charlotte konnte sich gar nicht halten vor Gelächter, in das Noah kräftig mit einstimmte. Dann setzten sie sich zusammen und warfen von Zeit zu Zeit dem armen Oliver verächtliche Blicke zu, wie er vor Kälte schaudernd auf seiner Kiste im Winkel saß und die schäbigen Reste verzehrte, die für ihn aufgehoben waren.
    Noah war ein Zögling aus dem Waisenstift und nicht etwa eine Waise aus dem Arbeits- oder Armenhaus. Er war auch kein Findling und konnte seinen Stammbaum schnurgerade bis zu seinen Eltern hinauf, die dicht daneben wohnten, herleiten. Seine Mutter war eine Waschfrau und sein Vater ein versoffener Soldat mit einem Stelzfuß und einer Tagespension von zweieinhalb Pence. Die Laufburschen in der Nachbarschaft pflegten Noah mit dem Spitznamen »Waisenstiftler« oder »Lederbüchse« zu belegen, und Noah hatte es stillschweigend ertragen müssen. Aber jetzt warf ihm das Schicksal durch einen glücklichen Zufall einenWaisenknaben ohne Namen in den Weg, auf den selbst das verworfenste Geschöpf spöttisch mit dem Finger deuten durfte; an ihm gedachte er jetzt seine ganze lang aufgespeicherte Wut auszulassen. Es bestand derselbe Unterschied zwischen Oliver und ihm wie zwischen einem hochgeborenen Lord und einem schmutzigen Straßenjungen.
    Ungefähr drei bis vier Wochen war Oliver bei dem Leichenbestatter gewesen, als Mr. Sowerberry eines Tages seiner Ehehälfte gegenüber auf ihn zu sprechen kam. »Der Junge sieht jetzt prächtig aus, meine Liebe«, sagte er.
    »Na, essen tut er wahrhaftig g’nug«, knurrte Mrs. Sowerberry.
    »Es liegt ein Ausdruck von Melancholie in seinem Gesicht, meine Liebe, so daß ich glaube, er würde sich vortrefflich als Kerzenträger bei einem Leichenbegängnis eignen.«
    Mrs. Sowerberry blickte verwundert auf, und ihr Gatte fuhr eifrig fort:
    »Ich meine nicht, wenn ein Erwachsener begraben wird, sondern bei Kinderbestattungen. Es wäre eine ganz neue Idee, und ich

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