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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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bloß die oberen Stockwerke bewohnt. Bei einzelnen der Bauten, die infolge ihres Alters und ihrer Morschheit gänzlich zu zerfallen drohten, war dem völligen Einsturz durch mächtige gegen die Mauern gelehnte Balken, die fest in den Boden gerammt waren, gewehrt. Aber selbst diese Ruinen schienen von obdachlosem Gesindel als Schlupfwinkel auserlesen zu sein, wie man daraus ersehen konnte, daß viele der Bretter, die die Stelle von Türen und Fenstern vertraten, so auseinandergerissen waren, daß sich ein Zugang bildete, durch den ein Mensch nötigenfalls hindurchschlüpfen konnte. Die Rinnsteine waren verstopft und voll Kot; – selbst die Ratten, die tot in dem Unrat verwesten, machten den Eindruck, als ob sie Hungers gestorben seien.
    An der offenen Türe, an der Oliver und sein Herr haltmachten, war weder ein Klopfer, noch ein Klingelgriff zu sehen. Vorsichtig tappten sie sich einen dunklen Gang entlang und stiegen zum ersten Stock empor. Oliver ging dabei immer hinter Mr. Sowerberry her, der ihm zuredete, sich nicht zu fürchten, bis er endlich im Gang gegen eine Türe stolperte und anklopfte.
    Ein junges Mädchen, ungefähr dreizehn oder vierzehn Jahre alt, öffnete ihnen. Für den Leichenbestatter genügte ein Blick in das Zimmer, um zu wissen, wohin er sich zu begeben habe. Er trat ein, und Oliver folgte ihm.
    Vor einem mit kalter Asche gefüllten Kamin kauerte ein Mann, und ein altes Weib hatte auf einem Schemel nebenihm Platz genommen. In einem andern Winkel hockten ein paar in Lumpen gehüllte Kinder herum, und in einem kleinen Bretterverschlag der Eingangstüre gegenüber lag etwas auf dem Boden, über das ein altes Tuch geworfen war. Oliver schreckte zusammen, als er die Augen dorthin wandte, und unwillkürlich fühlte er, daß das, was unter dem Tuch lag, eine Leiche sein müßte.
    Das Gesicht des Mannes am Kamin sah eingefallen und totenblaß aus. Bart und Haupthaar waren ergraut und seine Augen blutunterlaufen. Das alte Weib hatte ein Gesicht voll Runzeln, die beiden Zähne, die sie noch besaß, ragten über ihre Unterlippe hervor, aber ihre Augen strahlten hell und durchdringend. Oliver konnte es kaum über sich gewinnen, sie oder den Mann anzublicken, denn beide sahen den toten Ratten, die er draußen bemerkt, grauenhaft ähnlich.
    »Niemand soll ihr nahe kommen«, rief der Mann und sprang wütend auf, als sich der Leichenbestatter dem Holzverschlag näherte. »Zurück da. Gott verdammt. Zurück da, oder –«
    »Unsinn, lieber Freund, Unsinn«, suchte ihn der Leichenbestatter, der mit dem Elend in allen Gestalten wohl vertraut war, zu beruhigen. »Unsinn, sage ich Ihnen, Unsinn.«
    »Und ich sage Ihnen«, rief der Mann, ballte die Fäuste und stampfte wie ein Rasender auf den Boden, »ich sage Ihnen: ich will nicht, daß Ihr sie einscharrt. Sie könnte keine Ruhe dort finden. Die Würmer würden sie quälen und plagen – fressen wohl nicht – sie ist nur noch Haut und Knochen.«
    Mr. Sowerberry gab weiter keine Antwort, sondern zog ein Band aus seiner Tasche und kniete einen Augenblick neben der Leiche nieder.
    »Ja«, rief der alte Mann und brach in Tränen aus, »knietnur nieder, kniet alle nieder; ich sag Euch, man hat sie hungern lassen, bis sie gestorben ist. Ich hab’ ja nicht geahnt, wie schlimm es mit ihr stand, bis sie das Fieber bekam. Und da stachen ihr auch schon die Knochen durch die Haut. Nicht einmal ein Licht brannte hier, als sie starb. In der Dunkelheit hat sie sterben müssen. Nicht einmal das Gesicht ihrer Kinder hat sie sehen können; nur ihre Namen hat sie stammeln dürfen. Ich hab’ für sie auf der Straße gebettelt, aber da haben sie mich ins Gefängnis gesteckt. Und als ich freikam, lag sie schon im Sterben. Mein Herzblut ist ausgedörrt bis auf den letzten Tropfen. Man hat sie verhungern lassen! Ich schwöre bei Gott, daß es wahr ist. Sie haben sie verhungern lassen!«
    Der Mann raufte sich das Haar und sank stöhnend mit stieren Augen und Schaum vor dem Mund zusammen.
    Die entsetzten Kinder jammerten und weinten, aber die Alte, die bisher stumm geblieben, als ob sie taub sei gegen alles, was rings um sie her vorging, wies sie zur Ruhe. Dann löste sie dem Mann, der noch immer ausgestreckt auf dem Boden lag, das Halstuch und taumelte auf den Leichenbestatter zu.
    »Sie war meine Tochter«, krächzte sie und nickte mit dem Kopf nach der Leiche hin. Das blödsinnige Grinsen, mit dem sie ihre Worte begleitete, wirkte grauenhafter als selbst die Gegenwart des Todes an

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