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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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ob er nicht etwa Werkzeuge bei sich habe, der Vollziehung des Richterspruches vorzugreifen. Dann steckten sie ihn in eine der Zellen, die für die zum Tode verurteilten Gefangenen bestimmt waren.
    Fagin hockte sich auf eine Steinbank gegenüber der Türe und heftete seine blutunterlaufenen Augen auf den Boden. Vergebens suchte er seine Gedanken zu sammeln. Einige abgerissene Stellen aus der Rede des Richters gingen ihmdurch den Kopf, und langsam ward er sich klar, daß er zum Tode verurteilt war durch den Strang. Das waren die Schlußworte gewesen. »Verurteilt, zu sterben den Tod durch den Strang.« Es wurde finstrer und finstrer, und er mußte an alle die denken, die von seinen Bekannten auf dem Schafott gestorben waren, manche von ihnen durch seine Schuld. Sie erhoben sich vor ihm und zogen an ihm vorüber so rasch, daß er sie kaum zu zählen vermochte. So manche von ihnen hatte er sterben sehen, hatte sie verhöhnt und Witze über sie gemacht, weil sie mit Gebeten auf den Lippen gestorben waren. Er erinnerte sich an das fallende Geräusch, als das Brett unter ihren Füßen weggezogen worden war, und wie sie dann plötzlich verändert ausgesehen hatten. Vorher starke kräftige Männer, im Handumdrehen zu baumelnden, schwankenden Vogelscheuchen geworden.
    So mancher von ihnen hatte vielleicht in dieser selben Zelle gesessen und auf demselben Fleck. Es wurde vollkommen dunkel. Warum brachte man kein Licht? Es war ihm, als säße er in einer mit Leichen angefüllten Gruft. Dann sah er die Armsünderkappe, die Schlinge des Galgens, gefesselte Hände, bekannte Gesichter und schrie: Licht, Licht, Licht!
    Und als er sich die Knöchel an den Eisentüren und kalten Mauern wund geschlagen und gestoßen hatte, traten zwei Männer ein und steckten eine brennende Kerze in ein Eisengestell an der Wand und brachten eine Matratze, auf der er die Nacht zubringen sollte. Sie sagten, sie würden bei ihm bleiben, denn er dürfe nach dem Gesetz nicht mehr allein gelassen werden.
    Dann kam die Nacht. Jeder Schlag von der Turmuhr, der denen draußen vom Leben erzählte und den kommenden Tag kündete, brachte ihm Verzweiflung. Und der Tag kam und verstrich. Und wieder war es eine Nacht unendlichlangen gräßlichen Schweigens. Und doch: wie schnell, wie fürchterlich schnell die Zeit dahinraste. Bald fluchte Fagin und heulte, bald raufte er sich stumm das Haar. Ehrwürdige alte Männer der jüdischen Gemeinde waren zu ihm in die Zelle gekommen, um bei ihm zu beten, aber er hatte sie von sich getrieben mit furchtbaren Flüchen. Sie wollten ihm zureden, aber er jagte sie hinaus.
    Samstagnacht. Nur eine einzige Nacht noch blieb ihm das Leben geschenkt. Dann brach der Sonntag an.
    Die beiden Männer hielten bei ihm Wache.
    Fagin hatte sich auf seinem steinernen Sitz niedergekauert, und seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück. Er sah den Tag seiner Verhaftung wieder vor sich. Steine, geworfen von der wütenden Menge, verwundeten ihn, man verband ihm den Kopf mit einem leinenen Tuch. Das rote Haar hing ihm über das blutleere Gesicht nieder. Sein Bart war zerrauft und verwirrt. Wieder hörte er die Uhr schlagen: acht, neun, zehn, elf. Am nächsten Morgen früh würde er der einzige Leidtragende sein, begriff er, in seinem eigenen Leichenzug.
    Schwarz bemalte Schranken waren bereits quer über die Straße gezogen, um den Andrang der wartenden Menge zu hemmen, da erschienen Mr. Brownlow und Oliver am Gefängnistor und wiesen einen beglaubigten Einlaßschein vor, der sie zu einem Besuch des Gefangenen ermächtigte.
    »Soll der junge Herr da mitkommen?« fragte der Schließer. »Es ist kein Anblick für Kinder, Sir!«
    »Freilich nicht«, entgegnete Mr. Brownlow. »Aber was ich mit dem Gefangenen zu sprechen habe, geht auch diesen Knaben hier an. Es ist nötig, daß er ihn jetzt sieht.«
    Der Mann führte sie durch dunkle Winkel und Gänge nach der Zelle.
    »Hier«, sagte er und blieb in einem düstern Eck stehen,wo ein paar Männer in tiefem Schweigen irgend etwas zurichteten; »hier muß er durchkommen. Wenn Sie sich hierherstellen, können Sie die Türe sehen, aus der man ihn herausführen wird.«
    Er führte sie in eine mit Steinfliesen ausgelegte Küche, wo die Speisen der Gefangenen zubereitet wurden, und deutete auf eine Türe. Es war ein offenes Gitter davor und oben hörte man Männerstimmen zwischen Hammerschlägen und Krachen von Holz: man errichtete das Schafott.
    Dann öffnete er mehrere schwere Tore, und nachdem sie

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