Oliver Twist
einen offenen Hof durchschritten hatten, stiegen sie Steintreppen empor zu einem Gang, der mit schweren Eisentüren flankiert war. Der Schließer klopfte mit dem Schlüsselbund an eine dieser Türen. Die beiden Wächter öffneten.
Fagin saß auf einer Lagerstatt und rückte nervös hin und her. Er glich einem Tier, das sich in einer Falle gefangen hat, und nicht mehr einem Menschen. Sein Geist irrte in der Finsternis seines Gemütes umher. Fagin schien in den beiden Ankömmlingen nichts andres mehr zu sehen als zwei Gestalten in einer langen Reihe von Erinnerungen.
»E feiner Junge das, der Charley. Güt hat er’s gemacht«, murmelte er. »Oliverleben, seh der an da – hihihi – ä Schendlmän is er geworden jetzt – hihi – bringt mer zu Bett den Oliverleben.«
Der Gefangenenwärter faßte Oliver an der Hand und flüsterte ihm zu, sich nicht zu fürchten.
»Bringt ihn zu Bett«, murmelte Fagin. »Er is gewesen – soll ich eso leben – an allem die Schuld. Es verlohnt sich schon das Geld, ihm das Handwerk zu legen. Hast de gehört, Bill? Scher dich nix um die Nancy. Hörste? Und schneid so tief, wie de kannst. Bolter, säg ihm erunter den Schädel.«
»Fagin!« rief der Schließer.
»Hier bin ich«, sagte der Jude und nahm sofort seine lauschende Stellung wieder ein wie vor einigen Tagen im Gerichtshof. »Ich bin e alter Mann – e alter Mann – e alter Mann.«
»Hören Sie, Fagin«, sagte der Schließer und drückte ihn nieder auf seine Bank, von der er sich erheben wollte, »hier ist jemand, der mit Ihnen sprechen will. Fagin, seien Sie doch ein Mann.«
»Ich werd’s nix mehr lang sein«, entgegnete der Jude mit einem Gesicht, in dem sich entsetzliche Wut malte. »Schlagt se tot, alle mitanander. Wer kann haben das Recht mich zu töten.«
Dabei fiel sein Blick auf Oliver und Mr. Brownlow und er fragte, sich besinnend, was sie wollten.
»Sie haben einige Papiere«, sagte Mr. Brownlow und trat näher, »die Ihnen ein gewisser Monks gegeben hat.«
»Lüge, alles miteinander«, rief Fagin. »Nicht e einziges Papier hab’ ich, nicht eins.«
»Um Gottes Barmherzigkeit willen«, rief Mr. Brownlow feierlich, »sagen Sie jetzt wenigstens die Wahrheit! Sie wissen, Sikes ist tot und Monks hat gestanden; Sie haben keine Hoffnung mehr zu einem weiteren Gewinn. Wo sind die Papiere?«
»Oliver«, flüsterte Fagin, »komm emol her! Ich will dir’s ins Ohr sagen.«
»Die Papiere«, flüsterte er, Oliver zu sich heranziehend, »sind in e Leinwandbeintel in e Loch oben im Schornstein in der ersten Stube nach vorne eraus. Hör emol, ich möcht so gern mit dir reden, mei Kind, ich möcht so gern mit dir reden, mei junger Freind.«
»Ja, ja«, sagte Oliver. »Lassen Sie mich nur ein Gebet sprechen. Sprechen Sie ein Gebet mit mir zusammen aufden Knien, und dann wollen wir bis morgen miteinander reden.«
»Draunßen, draunßen«, antwortete Fagin und stierte wie geistesabwesend zur Zellendecke empor. »Sag doch, ich bin eingeschlafen. Dir werden sie’s bestimmt glauben. Siehst du, so kannst du mich erausführen, wenn sie mich anfassen.«
»Gott vergebe dem Ärmsten«, rief Oliver und brach in Tränen aus.
»Recht so, recht so«, lobte Fagin. »Siehst du, so eppes bringt uns gleich weinter. Siehst du da zuerst durch die Tür. Und wenn ich auch zitter, wenn wir vorbeikommen am Galgen, mach dir nix draus und fiehr mich nur immer weinter und immer weinter. So so so so – immer fort – immer weinter.«
»Haben Sie sonst noch etwas zu fragen, Sir?« fragte der Schließer.
»Nein, sonst nichts mehr«, antwortete Mr. Brownlow. »Wenn Hoffnung wäre, ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen –«
»Das ist unmöglich«, antwortete der Mann. »Am besten, wir lassen ihn allein.«
Die Zellentür wurde geöffnet, und die beiden Wärter kamen wieder herein.
»Weinter, nur immer weinter«, rief Fagin. »Still, still, aber doch nich gar ä so langsam, e bissele schneller, e bissele schneller.«
Oliver machte sich los, und Fagin kämpfte einen Augenblick lang verzweifelt mit den beiden Männern, die ihn packten. Dann stieß er einen gellenden Angstschrei nach dem andern aus, daß es Oliver und Mr. Brownlow noch nachtönte, als sie bereits den offenen Hof erreicht hatten.
Der Tag brach bereits an, als sie wieder im Freien standen. Eine große Menschenmenge hatte sich bereits versammelt.In den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser lehnten Leute, rauchten, würfelten oder spielten Karten, um sich die Zeit zu vertreiben.
Weitere Kostenlose Bücher