Ein Meer von Leidenschaft (German Edition)
1. KAPITEL
E in versunkener Schatz vor der Küste von Ocracoke. Kathleen Hardesty ließ den vergoldeten Füllfederhalter sinken und faltete ihre schlanken Hände über dem Notizbuch, das geöffnet vor ihr auf dem großen Schreibtisch aus massivem Eichenholz lag. Das Licht der Schreibtischlampe fiel auf ihre ineinander verschränkten Finger, an denen weder Brillantringe noch Nagellack von der zarten weißen Haut ablenkten.
Kate seufzte und blickte über die vielen Seekarten und Aufzeichnungen, die sie vor sich ausgebreitet hatte. Jeder Buchstabe der steilen klaren Handschrift ihres Vaters verriet die feste Überzeugung, die Edwin J. Hardesty dazu getrieben hatte, einem Schatz nachzuspüren.
Nichts an dem ruhigen, zurückgezogenen Leben ihres Vaters hätte Kate jemals auch nur vermuten lassen, dass er von versunkenem Gold träumte. Fantastereien von Schiffen, die vor zwei-, dreihundert Jahren mit ihrer ganzen wertvollen Ladung im Meer untergegangen waren, passten nicht zu seinem ernsthaften Wesen.
Nachdenklich schaute Kate vor sich hin.
Sie hatte ihrem Vater nachgeeifert und ebenfalls den Beruf des Erziehers gewählt. Mit Leib und Seele war sie Lehrerin und konnte sich nichts vorstellen, was sie mehr ausfüllte, als heranwachsende Menschen mit der Schönheit der englischen Literatur vertraut zu machen. Ihr Vater impfte ihr einst die Bedeutung von Erziehung und Bildung ein. Für ihn schien es nichts Wichtigeres im Leben gegeben zu haben. Bildung hatte Edwin Hardesty stets als unabdingbare Voraussetzung für eine zivilisierte Gesellschaft betrachtet.
Und so war Kate inmitten von Büchern aufgewachsen und in der sanften, aber bestimmten Art eines engagierten Pädagogen erzogen worden. Er erwartete von ihr, dass sie außergewöhnliche Leistungen in der Schule erbrachte. Sie enttäuschte diese Erwartungen nie. Und später folgte sie in beruflicher Hinsicht dem Beispiel ihres Vaters. Jetzt war sie achtundzwanzig Jahre alt und hatte gerade ihr erstes Jahr als Dozentin am renommierten Yale College abgeschlossen.
Äußerlich entsprach Kate dem althergebrachten Klischee einer Lehrerin. Sie trug ihr langes hellbraunes Haar aufgesteckt. Ihre Lesebrille aus Horn hob sich stark von dem hellen Teint ihres Gesichtes ab. Hohe Wangenknochen verliehen ihr ein etwas hochmütiges Aussehen, das jedoch von ihren sanften rehbraunen Augen gemildert wurde. Kate hatte ihre Kostümjacke über den Stuhl gehängt und die Manschetten der adretten weißen Bluse hochgeschlagen. Außer einer schmalen Armbanduhr und geschmackvollen goldenen Ohrsteckern trug sie keinen Schmuck. Die Ohrstecker, ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, waren das einzige Zeichen persönlicher Zuneigung, das sie je von ihm erhalten hatte.
Seit jenem Tag waren sieben Jahre vergangen. Und heute, eine Woche nach dem Begräbnis ihres Vaters, saß Kate an seinem Schreibtisch. Im Raum hingen noch der milde Duft seines Rasierwassers und der Geruch des würzigen Pfeifentabaks, den er nur hier in seiner Bibliothek zu rauchen pflegte.
Kate hatte nichts von der Krankheit ihres Vaters gewusst, nichts von den regelmäßigen Arztbesuchen, den Untersuchungen, den EKG-Befunden oder den kleinen Tabletten, die er stets bei sich trug. Erst nach dem tödlich verlaufenen Herzanfall hatte Kate sie in der Innentasche seines Jacketts gefunden.
Nein, ich brauche mir keine Vorwürfe zu machen, sagte sie sich. Er wollte nicht, dass jemand von seiner Krankheit erfuhr – oder von der Existenz der Seekarten und Forschungsunterlagen.
Jetzt habe ich unvermittelt von beidem erfahren, und mit einem Mal ist das Bild, das ich mir von Vater gemacht habe, ins Wanken geraten, grübelte sie weiter. Sie war sich nicht mehr sicher, den Mann jemals richtig gekannt zu haben, der sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter allein aufgezogen hatte.
Kate lehnte sich in dem Sessel zurück und schob ihre schwache Lesebrille auf der Nase zurecht. Mit Daumen und Zeigefinger rieb sie ihre Nasenspitze und versuchte sich ihren Vater vorzustellen.
Edwin Hardesty war ein großer Mann gewesen, mit einem schmalen Gesicht und sorgfältig geschnittenem Haar. Stets hatte er den Eindruck eines drahtigen, gesunden Menschen gemacht. Am liebsten trug er dunkle Anzüge und weiße Hemden. Nur einen einzigen Luxus gönnte er sich: den wöchentlichen Gang zur Maniküre.
Kate hatte ihren Vater nie böse oder zornig erlebt. Nie hatte er sie angeschrien oder gar geschlagen. Dessen bedurfte es auch niemals. Er
Weitere Kostenlose Bücher