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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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am Galgen. Oder vielleicht nicht?«
    Purpurrot vor Wut sprang Oliver auf, packte Noah ander Gurgel und schüttelte ihn, daß ihm die Zähne im Munde klapperten. Dann schlug er ihn mit einem einzigen geschickten Hieb zu Boden.
    Noch eine Minute vorher war Oliver das ruhigste sanfteste Geschöpf der Welt gewesen. Aber jetzt hatte die scheußliche Beschimpfung seiner Mutter sein Blut zum Wallen gebracht. Seine Augen blitzten, und er war völlig umgewandelt, wie er auf den feigen Quälgeist, der vor ihm auf dem Boden lag, niederblickte.
    »Er will mich ermorden«, heulte Noah. »Charlotte! Mrs. Sowerberry! – Er schlägt mich tot – Hilfe – zu Hilfe! Oliver ist verrückt geworden. Char – lotte!«
    Ein lautes Gekreisch aus Charlottens und ein noch lauteres aus Mrs. Sowerberrys Mund war die Antwort, und gleich darauf kam das Dienstmädchen in die Küche hereingestürzt, während die Meisterin wohlweislich auf der Treppe oben stehenblieb, bis sie sich vergewissert, daß nichts für sie auf dem Spiele stände, wenn sie ganz die Treppe herunterkäme.
    »O du elendes Ungeheuer«, kreischte Charlotte und packte Oliver mit aller Kraft an der Brust. »Du – klei – ner – mord – gieriger – Schuft.« Und bei jeder Silbe versetzte sie dem armen Oliver zum Ergötzen der Anwesenden einen Hieb.
    Ihre Faust war ziemlich gewichtig und hätte Olivers Mordlust, wenn eine solche vorhanden gewesen wäre, sicher gedämpft. So aber kam auch noch Mrs. Sowerberry dazu, stürzte in die Küche, hielt ihn mit einer Hand fest und zerkratzte ihm mit der andern das Gesicht. Das gab natürlich Noah seinen Mut zurück, er stand auf und begann von rückwärts auf Oliver einzuhauen.
    Dieser überstürzte Angriff war doch etwas zu heftig, als daß er hätte lange dauern können. Als sich die drei müde geprügelthatten und nicht mehr weiterkonnten, schleppten sie Oliver, der sich immer noch aus Leibeskräften wehrte und aus vollem Halse schrie, in den Kohlenkeller, wo sie ihn einsperrten. Dann sank Mrs. Sowerberry in einen Stuhl und brach in Tränen aus.
    »O Gott, sie stirbt«, jammerte Charlotte. »Ein Glas Wasser, Noah! Wasser! Schnell, schnell!«
    »Ach, Charlotte, wir können Gott danken, daß wir nicht längst alle in unsern Betten ermordet worden sind.«
    »Ja, ja, es ist eine Gnade des Himmels, Madame«, erwiderte das Dienstmädchen. »Der arme Noah, er war schon halb tot, als ich hereinkam.«
    »Der arme, arme Junge«, rief Mrs. Sowerberry mitleidig. Und auch Noah war ganz ergriffen und heuchelte ein paar Tränen.
    »Was sollen wir nur tun?« rief Mrs. Sowerberry. »Mein Mann ist nicht zu Hause, niemand ist da, und die Tür wird uns der Mordbube in ein paar Minuten eingetreten haben.« Olivers energische Attacken gegen die Bretterwand des Kohlenkellers ließen ein solches Ereignis allerdings als höchst wahrscheinlich annehmen.
    »O Gott, o Gott, ich weiß auch nicht, was wir tun sollen, Mrs. Sowerberry«, jammerte Charlotte. »Sollen wir nicht vielleicht nach der Polizei schicken?«
    »Oder nach dem Mülidär«, rief Mr. Claypole.
    »Nein, nein«, widersprach Mrs. Sowerberry, sich in diesem Augenblick an Olivers alten Freund erinnernd. »Lauf zu Mr. Bumble, Noah, und sage ihm, er solle doch gleich herkommen. Such erst nicht lang nach deiner Mütze, sondern eil dich. Halt dir beim Laufen eine Messerklinge an deine Beule, da vergeht die Geschwulst am schnellsten.«
    Noah ließ sich nicht erst lange Zeit, eine Antwort zu geben, sondern rannte so schnell er konnte, ein Messer anseine Stirn drückend, durch die Straßen ins Gemeindearbeitshaus.

SIEBTES KAPITEL
    Oliver bleibt verstockt
     
    Noah Claypole hielt nicht einen Augenblick im Laufen inne und kam atemlos vor dem Tor des Gemeindearbeitshauses an. Einen Augenblick blieb er stehen, um eine möglichst klägliche Miene anzunehmen, klopfte dann laut und zeigte dem alten Armenhäusler, der ihm öffnete, ein so jammervolles Gesicht, daß dieser vor Erstaunen zurückprallte und fragte: »Um Gottes willen, was hast du denn, Junge?«
    »Mr. Bumble, Mr. Bumble«, schrie Noah in gut geheuchelter Angst und so laut und gellend, daß Mr. Bumble, der ihn sofort hörte, augenblicklich ohne seinen Dreispitz in den Flur gestürzt kam – ein deutlicher Beweis, daß unter Umständen sogar ein Kirchspieldiener die Besinnung verlieren und alle Würde außer acht lassen kann.
    »Mr. Bumble, Mr. Bumble«, keuchte Noah, »Oliver, Mr. Bumble, – Oliver – Oliver ist –«
    »Was denn, was ist er denn?«

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