Oliver Twist
Taugenichts«, gellte Mrs. Sowerberry. »Hat er damit vielleicht nicht recht gehabt.«
»Nein, er hat nicht recht gehabt«, rief Oliver.
»Sie hat es verdient«, schrie Mrs. Sowerberry.
»Das ist eine Lüge«, erklärte Oliver kühn.
Sofort brach Mrs. Sowerberry in eine Flut von Tränen aus, die ihrem Gatten keine Wahl mehr weiter ließ. Wollte er wirklich einen Augenblick zögern, Oliver streng zu bestrafen, so gab es für ihn jetzt keine Entschuldigung mehr; seine Ehehälfte würde ihm die schrecklichsten Predigten gehalten haben. Er züchtigte Oliver daher in einer Weise, die Mr. Bumbles Eingreifen mehr als überflüssig machte. Dann wurde der kleine Missetäter bei Wasser und Brot wieder eingesperrt, und lange noch verhänselten und beschimpften ihn Noah, Charlotte und Mrs. Sowerberry durch die Türe durch, bis auch sie sich endlich schlafen legten.
Erst als es ganz still geworden, konnte Oliver sich seinen Gefühlen überlassen. Allen ihren Sticheleien hatte er nur ein verstocktes Schweigen entgegengesetzt, und ohne ein einziges Mal zu schreien, hatte er die Züchtigung seinesMeisters hingenommen. Jetzt aber, wo niemand da war, der ihn sehen konnte, kniete er nieder, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte – weinte, wie wohl wenige Kinder vor ihm geweint haben mögen.
Es dauerte lange, bis er sich wieder erhob, und die Kerze brannte schon tief im Leuchter, als er aufstand. Vorsichtig spähte er umher und lauschte gespannt. Dann mühte er sich ab, den Riegel zurückzuschieben, was ihm endlich gelang, und lugte hinaus.
Es war eine kalte finstere Nacht, und die Sterne schienen in viel größerer Entfernung von der Erde, als Oliver sie jemals gesehen zu haben sich erinnerte. Kein Lufthauch regte sich. Leise schloß er die Türe wieder, und nachdem er bei dem erlöschenden Kerzenlicht die wenigen Kleidungsstücke, die er sein eigen nannte, in ein Bündel geschnürt, setzte er sich auf eine Bank, um den Anbruch des Morgens zu erwarten.
Mit dem ersten Lichtstrahl, der durch die Ritzen des Ladens schien, erhob er sich, – ein Schauerblick nach rückwärts, ein Moment der Unentschlossenheit, – dann hatte er die Türe hinter sich geschlossen und stand draußen auf der Straße. Er blickte nach rechts und links, ungewiß, wohin er sich wenden solle. Es fiel ihm ein, einmal gesehen zu haben, daß alle Wagen, wenn sie nach der Stadt fuhren, den Hügel hinaufwankten. Er schlug denselben Weg ein. Und als er auf der Landstraße anlangte, schritt er rüstig weiter. Er kam am Arbeitshaus vorüber. Nichts verriet, daß seine Insassen zu so früher Stunde schon auf sein könnten. Oliver blieb stehen und spähte in den Garten. Ein Kind jätete mit dem Spaten in einem kleinen Beet, hob sein blasses Gesicht, und Oliver erkannte die Züge eines früheren Leidensgefährten. Er freute sich, daß er den kleinen Jungen vor seinem Fortgehen noch einmal sah, denn er war ihm,wenn er auch jünger als er war, ein lieber Freund und Spielkamerad gewesen. Sie hatten zusammen gelitten, waren zusammen eingesperrt worden und hatten immer miteinander hungern müssen.
»Heda, Dick«, sagte Oliver, als der Junge zum Geländer gelaufen kam und ihm seinen dünnen Arm zum Willkommen durch die Stäbe reichte. »Ist schon jemand auf?«
»Nur ich.«
»Sag nicht, daß du mich gesehen hast, Dick«, flüsterte Oliver, »ich bin geflohen. Man hat mich geschlagen und mißhandelt. Ich gehe und such mir mein Glück woanders. Wo, weiß ich noch nicht. Wie blaß du aussiehst.«
»Der Doktor hat gesagt, ich muß sterben – ich hab’s gehört«, antwortete der Kleine mit einem schwachen Lächeln. »Ich freue mich, daß ich dich noch einmal sehe, lieber Oliver. Aber halt dich nicht auf, geh rasch fort.«
»Ich will dir nur Lebewohl sagen«, antwortete Oliver. »Ich werde dich schon noch wiedersehen, Dick. Ich weiß es bestimmt, Dick. Es wird dir noch einmal gutgehen, und du wirst glücklich werden.«
»Ich will es hoffen«, erwiderte der Kleine. »Aber erst, wenn ich mal gestorben bin; vorher kann’s nicht sein. Der Doktor wird schon recht haben, Oliver; und ich träume soviel vom Himmel und von Engeln mit milden Gesichtern, wie sie hier auf Erden nicht sind. Komm, gib mir einen Kuß«, – der Kleine kletterte auf das niedrige Gittertor und schlang seine Hände um Olivers Hals. »Leb wohl, lieber Freund, und Gottes Segen.«
Der Segenswunsch kam von den Lippen eines kleinen Jungen, aber es war der erste Segen, den Oliver zu hören bekam. In
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