Olivers Versuchung
drehte sie sich zu ihm und funkelte ihn an. „Von all den Wachen hasse ich dich am meisten!“
Als er spöttisch grinste, spuckte sie ihm ins Gesicht.
Dies lenkte ihn für einen winzigen Moment ab, aber das war alles, was sie brauchte: Mit aller Wucht rammte sie den Pflock in seine Brust. Mit Genugtuung beobachtete sie, wie er vor ihren Augen zu Staub zerfiel.
Hinter ihm erschien Oliver wie aus dem Nichts, seine Pistole auf sie gerichtet. Er erstarrte in seiner Bewegung und riss die Waffe zur Seite. Er war kurz davor gestanden, Dirk in den Rücken zu schießen.
Oliver eilte zu ihr und zog sie in seine Arme. Als er sie wieder losließ, war alles um sie herum still. Ihre Augen suchten die Gegend ab, wo der Kampf stattgefunden hatte. Keiner ihrer Feinde lebte noch.
Gabriel und Amaury standen da und atmeten ein wenig heftiger als vorher, aber sie hatten keinen Kratzer abbekommen.
„Und Thomas?“, fragte sie und hielt den Atem an.
„Ich bin hier“, kam Thomas’ Stimme zwischen zwei Lastwagen hervor. Er tauchte eine Sekunde später auf. „Sterbliche. Sie haben sich genähert. Ich musste sicherstellen, dass sie umkehrten, oder sie hätten getötet werden können.“
Sie nickte erleichtert, dann spürte sie, wie Oliver seine Hand unter ihr Kinn legte und ihr Gesicht zu ihm drehte, damit sie ihn ansah. „Ich bin so stolz auf dich, Ursula.“
Sie warf einen Blick auf die Stelle, wo sich Dirks Asche auf dem Boden sammelte. „Er war derjenige, der mich jede Nacht gequält hat.“
„Niemand wird dir jemals wieder wehtun“, versprach Oliver und umarmte sie fester. „Jetzt lasst uns die Mädchen befreien!“
Zusammen mit Olivers Kollegen gingen sie zur Ladefläche des Lastwagens. Amaury packte den Hebel, um das Schloss zu öffnen. Dann schwangen er und Gabriel die Doppeltüren auf.
Drinnen war es dunkel, aber Ursula hörte leises Keuchen vom hintersten Ende.
„Kommt raus, ihr seid frei!“, rief Gabriel in den Lastwagen hinein, aber niemand rührte sich.
„Sie haben Angst“, erklärte Ursula. Dann stieg sie auf eine Metallplattform und sprach sie auf Chinesisch an: „Ich bin’s: Wei Ling. Ihr seid in Sicherheit, Schwestern. Kommt raus, wir gehen nach Hause!“
„Wei Ling“, hörte sie die Mädchen antworten. „Wei Ling ist gekommen!“
Eine nach der anderen gingen die jungen Frauen zur Ladefläche des Lastwagens und blickten erst Ursula an, bevor sie die Männer hinter ihr musterten. „Sie sind unsere Freunde“, versicherte sie ihnen auf Chinesisch.
Die Vampire halfen den Mädchen aus dem LKW. Als sie alle ihr temporäres Gefängnis verlassen hatten, drängten sie sich um Ursula. Ursulas Augen suchten nach einem bestimmten Mädchen. „Lanfen“, flüsterte sie. „Wo bist du?“
Eine Hand berührte ihre Schulter, und Ursula drehte sich um.
„Ich bin hier“, antwortete Lanfen.
Ursula fiel ein Stein vom Herzen. „Ich dachte, du wärst tot.“
„Ich war krank“, sagte Lanfen. „Aber ich habe es geschafft.“
Sie umarmten sich und hielten einander fest. Tränen schossen in Ursulas Augen.
„Wir gehen nach Hause“, flüsterte sie immer wieder und erlaubte sich, im Schoß ihrer Schwestern zu weinen.
38
Nachdem weitere Minivans von Scanguards gekommen waren, wurden die geretteten Frauen zu einer sicheren Unterkunft in San Francisco transportiert. Mehrere Teams von Scanguards gingen an die Arbeit, um mit den Familien der Frauen Kontakt aufzunehmen und deren Rückkehr nach Hause zu organisieren.
Der Rest von Scanguards hatte noch eine weitere Aufgabe vor sich.
Oliver wartete im Situationsraum und tappte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Obwohl er wusste, dass Ursula müde war und schlafen sollte, hatte sie darauf bestanden, dabei zu sein, wenn der Rest ihrer Peiniger bestraft wurde.
„Wann möchtest du deine Eltern anrufen?“, fragte er, wohl wissend, dass es keinen Grund mehr gab, sie davon abzuhalten. Genau wie alle anderen Mädchen würde sie nach Hause zurückzukehren wollen.
Und sie würde ihn verlassen und wieder dorthin zurückkehren, wohin sie gehörte.
Ursula deutete auf den Monitor, der noch immer das Live-Video der Lagerhalle in Oakland zeigte. „Nachdem sie alle tot sind.“
Er nickte und seine Brust verkrampfte sich. „Du kannst mit den anderen Frauen nach New York zurückfliegen, wenn du willst. Samson hat den Jet dafür genehmigt. Oder du kannst später fliegen . . . wenn du noch ein paar Tage länger bleiben willst.“
Er schaute weg, denn er wollte ihr
Weitere Kostenlose Bücher