Oma dreht auf
Gesichtszüge, damit hatte er nicht gerechnet. So ähnlich könnte er ausgesehen haben, als er nach Christas Stoß im Graben herumgerudert hatte.
«Raus!», rief er und wurde knallrot.
Imke blieb sitzen. «Herr Petersen …!»
«Raus!»
So barsch war Imke noch nie angefahren worden, schon gar nicht von einem Arzt. «Wie heißt das Zauberwort?», fragte sie, obwohl sie längst eingesehen hatte, dass ihre Mission gescheitert war.
Petersen sprang auf. «Ich brauche kein Zauberwort! Das ist meine Praxis, und ich habe hier Hausrecht! Hauen Sie ab, auf der Stelle!»
Imke blinzelte ihn böse an. «Föhr ist eine kleine Insel, vergessen Sie das nicht. Man trifft sich immer wieder.»
«Lächerlich!»
«Auf Wiedersehen, Herr Dr. Petersen», sie erhob sich.
«Schönen Tag dann noch», keifte Petersen ihr hinterher.
Imke ging hinaus und setzte sich ins Wartezimmer, in dem drei Leute saßen: Gerd von der Stackmeisterei, Jens Jensen vom Café Friesentraum und Karen-Ann, die Eisverkäuferin aus Oevenum.
«Bist du schon fertig beim Doktor, Imke?», fragte Gaby, die Sprechstundenhilfe.
«Ja», stöhnte Imke und hielt sich krampfhaft am Stuhl fest. Plötzlich war ihr schrecklich übel, was Gaby zunächst gar nicht mitzubekommen schien, weil sie gerade etwas in den PC eintippte. Kurze Zeit später stürzte Petersen aus dem Behandlungsraum. Als er sah, dass Imke immer noch nicht gegangen war, verlor er erneut die Beherrschung.
«Haben wir uns nicht verstanden?», dröhnte seine Stimme in ihr Ohr. «Gehen Sie!»
Zum Glück bemerkte Gaby jetzt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.
«Frau Riewerts geht es nicht gut», zirpte sie dazwischen.
«Quatsch, die simuliert!» Petersen zischte wieder in sein Behandlungszimmer ab, und nun wurde Imke schwarz vor Augen.
«Der Frau geht es wirklich nicht gut», beschwerte sich Karen-Ann bei Gaby, «wo ist denn der Doktor?»
Gaby eilte zu ihr. «Imke, was machst du für Sachen?», flüsterte sie.
Das klingt wie auswendig gelernt, dachte Imke noch. Dann schlief sie ein.
Als sie wieder aufwachte, drehten Sprechstundenhilfe Gaby und Dr. Petersen sie gerade in die stabile Seitenlage.
«Lass sie einen Moment hier liegen», ordnete Petersen an. Fast widerwillig legte er ihr eine Blutdruckmanschette an. Ihr Blutdruck war tatsächlich viel zu niedrig.
«Wir betten sie auf die Liege nebenan, du bleibst bei ihr», befahl er seiner Assistentin. Dann verschwand er.
Imke kam wieder zu Kräften, nachdem Gaby ihr ein Glas Wasser gebracht hatte.
«Ich will hier weg», murmelte sie. «Kannst du Ocke rufen? Er soll mich mit dem Taxi abholen.»
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26. Pladdäreeg’n
«Pladdäreeg’n» nannte Ocke das, was am nächsten Vormittag gegen die Scheiben des Gemeinschaftszimmers prasselte. Dieses Wort ließ sich nur sehr vage ins Hochdeutsche mit «Platterregen» übersetzen; «Pladdäreeg’n» traf es viel genauer, man musste es schnell und gleichzeitig breit aussprechen. So wie man von den Inuit sagte, sie hätten zahlreiche Wörter für Schnee, gab es in Nordfriesland mindestens ebenso viele Ausdrücke für Regen. Wobei die Wetterstatistik das feuchte Image eigentlich widerlegte: Föhr hatte erheblich mehr Sonnenstunden als das Festland.
Aber an diesem Tag war eben mal Pladdäreeg’n. Mal kam er von oben, mal schräg von der Seite, mal frontal gegen die Scheibe geprasselt. Die Kuhlen und Senken auf den Feldern der Marsch und auf nicht befestigten Wegen füllten sich im Nu, im Garten der WG bildete sich ein richtiger kleiner Teich.
Ocke saß mit Imke und Christa auf der Couch. Christa hatte Tee gekocht und ein paar selbst gebackene Kekse bereitgestellt. Für einen Moment kam es Ocke so vor, als sei er richtig mit Christa zusammen. Aber es war nichts passiert, und wenn er Pech hatte, würde auch nichts passieren.
Schreckliche Vorstellung.
«Wie soll es nun weitergehen mit unserer WG ?», sorgte sich Imke.
«Auf jeden Fall ist jetzt mal Schluss mit deinen Alleingängen, Imke», schimpfte Christa.
«Ich sehe es ja ein.»
Christa sah ihr skeptisch in die Augen.
«Was braucht es, um Petersen umzustimmen?», fragte Ocke und beantwortete die Frage gleich selbst: «Nicht viel.»
«So?», wunderte sich Christa.
Imke streckte die Beine aus. «Denn vertell mal.»
«Wir machen da weiter, wo du aufgehört hast, Imke», sagte er. «Haben wir nicht alle so unsere Wehwehchen? Und wer kann uns besser behandeln als …?»
«Dr. Stefan Petersen», ergänzte Christa mit
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