Oma dreht auf
sich wie wahnsinnig auf das Kind. Leider musste sie vor den anderen die Klappe halten, das hatte sie Sönke geschworen, und daran hielt sie sich auch.
Nach zwei weiteren Tagen Ruhe war sie so weit. Christa und Ocke waren mit der Wohnungssuche nicht weitergekommen, also beschloss sie, zu Petersen zu fahren. Sie hatte einen Plan.
Nach einer morgendlichen Wechseldusche aus extrem heiß und extrem kalt machte sie sich auf den Weg. So ausgeschlafen hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt, außerdem hatte sie zur Sicherheit die Tabletten von Dr. Behnke in ihrer Handtasche – aber nur für den Notfall. Ein Kollege von Ocke fuhr sie direkt von der WG zu Petersens Praxis, die sich in einem schmucklosen Einfamilienhaus in der Nähe des Südstrands von Wyk befand.
Entschlossen drückte Imke die Klinke der Eingangstür runter. Der Vorraum der Praxis war von weißen Neonlampen beleuchtet, was jetzt, im Sommer, besonders unangenehm wirkte. Die Sprechstundenhilfe Gaby Schulenberg wunderte sich, als Imke am Anmeldetresen vor ihr stand:
«Moin, Imke, was machst du denn hier? Bist du nicht sonst bei Dr. Behnke?»
Gaby war eine Schulfreundin ihrer Tochter Regine gewesen, sie hatte als Kind oft bei ihnen gespielt.
«Besser, man holt sich eine zweite Meinung.»
Gaby senkte die Stimme: «Was Ernstes?»
«Geht man zum Doktor, wenn es
nichts
Ernstes ist?», erwiderte Imke vielsagend.
«Ich muss mir doch keine Sorgen machen?»
«Wenn ich nicht gerade zwei Stunden warten muss, nicht.»
«Du kommst gleich dran, setz dich mal ganz nach vorne. Übrigens noch mal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.»
«Danke.»
Imke setzte sich in das sterile Wartezimmer. Spätestens wenn man hier warten musste, wurde man wirklich krank, fand sie. Zugegeben, sie war von ihrem Hausarzt Dr. Behnke extrem verwöhnt. Nicht nur, dass sie privat befreundet waren, Walter Behnke hatte ein altes Reetdachhaus zur Praxis ausgebaut, man saß im Wartezimmer direkt unter dem Dach, und im Winter wurde in der Mitte des Raumes sogar ein Herdfeuer entzündet. Dr. Petersen hingegen stand auf die üblichen Lamellen vor den Fenstern und kalte Stahlrohrstühle im kahlen Raum. Das heißt, hier und dort hingen Fotos von großen Tennisereignissen im Leben des Stefan Petersen: Stefan als Teenager mit Jugendpokal; Stefan, der mit ausgestrecktem Schläger einen beeindruckenden Hechtsprung hinlegt; Stefan beim gemischten Doppel unter Palmen. Imke fand das peinlich. Nicht, weil Petersen keine gute Figur auf den Fotos machte, sondern weil es ihr zu eitel und privat war. Fürs Wartezimmer gab es zur Not die klassische Moderne von Klee bis Miró, das passte besser als so eine aufgeblasene Selbstdarstellung.
Als Imke aufgerufen wurde, kam Petersen betont dynamisch auf sie zu. «Moin, Frau Riewerts, was kann ich für Sie tun?» Er führte sie ins Sprechzimmer.
«Moin, Herr Petersen», Imke ließ sich auf einen unbequemen Freischwinger fallen, der etwas nachfederte. «Also, ich leide unter Schlaflosigkeit.»
«Wie lange schon?»
«Seit einigen Tagen.»
Petersen nickte. «Ist etwas Besonderes passiert?»
«Ja, meine Wohnung ist gekündigt worden.»
«Das ist nicht schön.» Der Arzt sprach in jenem herablassenden Tonfall, in dem manche Menschen mit kleinen Kindern und Omis redeten.
«Nee.»
«Und haben Sie schon was Neues?»
Imke riss die Augen so weit auf, wie sie konnte, und schaute ihn verzweifelt an: «Auf der Insel ist das schwer.»
«Wohl wahr.»
«Meine Schlaflosigkeit ist aber heftig.» Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
Jetzt nahm Petersen einen billigen Kugelschreiber in die Hand, auf dem das Emblem einer Pharmafirma prangte. Er überlegte wohl schon, welches Medikament er ihr verschreiben würde; da sie als Beamtenwitwe ja Privatpatientin war, durfte es gerne etwas Teures sein …
«Wie viele Stunden schlafen Sie denn?», erkundigte er sich.
«Vier höchstens.»
Petersen verzog besorgt das Gesicht. «Das ist zu wenig.»
«Allerdings.»
«Dann verschreibe ich Ihnen etwas, das Sie entspannen wird. Vorher messe ich aber noch mal Ihren Blutdruck und höre die Lungen ab.»
Imke beugte sich etwas vor und legte ihre rechte Hand auf seinen Schreibtisch: «Oder Sie sorgen dafür, dass ich meine Wohnung behalten kann, indem Sie Ihre Kündigung zurückziehen.»
Petersens Miene wechselte von übertrieben freundlich zu arrogant.
«Nur weil Christa Sie beim Siel ins Wasser gestoßen hat …», setzte Imke nach.
Jetzt entglitten Petersen die
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