Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
der reichen Oberschicht setzten, die die Kriminellen häufig für ihre eigenen Zwecke benutzte, nämlich für die Durchsetzung persönlicher Machtinteressen und die Bewachung ihrer Ländereien«. Wie die Gangster auf Sizilien wendeten die
picciotti
die subtile Kunst der Schutzgelderpressung an, um in den oberen Gesellschaftsrängen Freunde zu gewinnen – Freunde, die mit ihren Zeugenaussagen die Gerichtsverfahren zugunsten der Ganoven herumreißen konnten. Doch im Laufe der Zeit trafen selbst die Richter immer häufiger seltsame Entscheidungen, so dass allmählich der Verdacht aufkam, die
Picciotteria
zerrütte das Rechtswesen von innen her. In Villa San Giovanni zum Beispiel, einer Hafenstadt nördlich von Reggio Calabria, wurde 1927 eine Gruppe einheimischer Mafiosi von dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung freigesprochen, obwohl einige der Ganoven sich hatten ablichten lassen, wie sie mit gezückten Pistolen und erhobenen Händen ein Gelübde ablegten.
Zu den großen Gangsterprozessen des Jahres 1928 gehörte die strafrechtliche Verfolgung von 52 Männern aus Africo. Einige davon waren mit ziemlicher Sicherheit die Söhne und Neffen jener
picciotti
, deren Killerkommando 1894 Pietro Maviglia die Speiseröhre aufgeschlitzt hatte. Africo war, wie ein faschistischer Beamter einräumte, noch immer »ein wirklich barbarischer Ort, ohne Verbindung zur übrigen Welt«; wenige Städte in Kalabrien hatten eine so berüchtigte mafiose Vergangenheit. Doch verrät die Entscheidung des Richters im Prozess von 1928 keinerlei Erinnerung an diese kriminellen Wurzeln. Er plädierte in einigen Fällen sogar für eine Strafmilderung, da »die kriminelle Vereinigung zum Teil gesellschaftliche Ursachen hatte: das Elend der Nachkriegsjahre und den vom Krieg ausgelösten moralischen Umbruch«. Die Angeklagten seien inzwischen »moralisch geläutert«, fuhr der Richter nachsichtig fort. Also kein glühendes Eisen in Africo, denn Schuld hatte die Gesellschaft.
Zwei Fälle aus der berüchtigten Gegend um Locri an der Ionischen Küste zeigen ebenfalls ein verdächtiges Maß an richterlicher Milde. 1928 vermochte die detaillierte Zeugenaussage eines eingeschworenen Mitglieds der
Picciotteria
den Richter keineswegs davon zu überzeugen, dass eine Mafiagruppe tatsächlich eine kriminelle Vereinigung sei. Eine Vereinigung mochte sie sein, so der Richter. Doch hatten sich ihre Mitglieder vielleicht tatsächlich nur, wie sie behaupteten, zusammengetan, »um sich gegenseitig vor den gewalttätigen Angriffen anderer zu schützen«. Freispruch aufgrund mangelnder Beweise, lautete infolgedessen das Urteil.
1929 befanden sich in Ardore unter 48 mutmaßlichen Mafiosi, die man der »Vereinigung in krimineller Absicht« und der Erpressung beschuldigte, auch zwei wohlhabende Bürger: Der eine war ein Unternehmer, der andere ein ehemaliger Schuster, der mittlerweile politischen Einfluss besaß. Beide wurden mit der fadenscheinigen Begründung freigelassen, es sei höchst »unwahrscheinlich, dass sie sich mit einem Haufen Habenichtse zu zwielichtigen Machenschaften herbeilassen könnten«. Der Boss dieser »Habenichtse« hatte zufällig ein Regelbuch der Mafia im Haus.
Einige dieser Entscheidungen mögen auf das Konto unwissender Richter gehen oder auf Klassenvorurteilen beruhen. Wahrscheinlicher ist, dass sie der wachsenden Macht der kalabrischen Mafia geschuldet sind, die über die Staatsverwaltung das Rechtssystem infiltrierte. Denn schon in den ersten Monaten nach der Machtergreifung der Faschisten, als die Schwarzhemden in der Region an »akuter Splitteritis« erkrankt waren, hatte sich gezeigt, dass der
Partito Nazionale Fascista
in Kalabrien für die einheimischen Laster Korruption, Vetternwirtschaft und Grabenkämpfe äußerst anfällig war. In Kalabrien hatte der Faschismus nicht nur Mühe, die Gesellschaft zu regieren, er hatte Mühe, die eigenen Reihen zu bändigen.
Wie vorherzusehen, war das Übel am schlimmsten rings um den Aspromonte, wo sich diverse Cliquen noch eine
Generation
später um die Gelder zankten, die verteilt worden waren, damit die durch die Erdbebenkatastrophe von 1908 verursachten Schäden behoben werden konnten. Mussolini entsandte in rascher Abfolge Sonderkommissare aus Rom, um den Schiebereien und der Schlammschlacht ein Ende zu machen. Doch was an der Stiefelspitze als »Faschismus« galt, blieb während der 20 Jahre andauernden Herrschaft beharrlich unlenkbar.
So war die einzige maßgebliche
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