Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Schwäche des faschistischen Feldzugs gegen die kalabrische Mafia dessen Unfähigkeit, die Ranken zu kappen, die das organisierte Verbrechen um die hohlen Äste des Staates geschlungen hatte. Schon 1933 erfuhr der faschistische Parteisekretär in Rom, dass sein Amtskollege in Reggio »bekanntermaßen mit dem organisierten Verbrechen im Bunde war, das noch immer die Provinz verseuchte«; der Betreffende besitze großen Einfluss innerhalb der Präfektur und des Polizeipräsidiums, hieß es. 1940 berichtete ein Sonderkommissar, dass »zahlreiche« Bürger in Kalabrien Mitglieder krimineller Vereinigungen seien oder zumindest Verwandte hätten, die Mitglieder seien. Sogar sein Amtsvorgänger habe sich mit Männern umgeben, die im Verdacht standen, mit dem organisierten Verbrechen im Bunde zu sein.
Die
picciotti
gewannen an Stärke, indem sie dem faschistischen Staat die Energie aussaugten. Doch zogen sie ihre zunehmende Vitalität auch von innen, aus Bündnissen, die bewirkten, dass die
’ndrine
noch schwerer von den Bergklippen und Küstenebenen zu tilgen waren, wo sie ihre Reviere abgesteckt hatten. Die
picciotti
lernten, das Verbrechen zum Familienunternehmen auszubauen.
Kalabrien: Eine schlaue, starke und umsichtige Frau
Italiens Verbrechernetzwerke waren schon immer aus Fasern geflochten, die aus unterschiedlichen Teilen des Gesellschaftsgefüges gestohlen waren: Freimaurersekten, Männerbünde, Schirmherrschaften, Patenschaften, Sprache und Rituale einer ausgehöhlten Religion ohne jeden spirituellen Gehalt, Festessen, der Abklatsch literarischer Vorlagen … Alles ist willkommen, solange es die Vereinigung zusammenhält. Doch die bei weitem stärksten kriminellen Bande bestehen schon immer aus Verwandtschaftsfäden. Die Familienbindung verleiht den Gangstergruppen eine Loyalität, wie sie in unpersönlicheren Strukturen kaum zu erreichen ist. Einen Kameraden an die Polizei zu verraten, ist das eine: Ungleich schwieriger ist der Treuebruch, wenn dieser Kamerad der eigene Cousin, Onkel oder Schwiegervater ist.
In der sizilianischen Mafia waren Geburten, Eheschließungen und Taufen niemals Privatsache. Sie gehören nicht zu den Angelegenheiten, denen ein Mafiaboss erst am Abend seine Aufmerksamkeit widmet, wenn das aus Schutzgelderpressung und Schmuggel bestehende Tagewerk vollbracht ist. Die Familie steht im Zentrum der täglichen Machenschaften der Unterwelt: Eine Eheschließung kann sowohl Krieg bedeuten als auch eine Zeit des Blutvergießens beenden oder die Geburt einer neuen Allianz einläuten. Dynastische Strategien waren schon immer ein wesentlicher Bestandteil der sizilianischen Mafia. Die Mafiosi, auf die Inspektor Sangiorgi im Rahmen der »Brudermord«-Affäre traf, beherrschten bereits die Kunst, eigene kriminelle Blutlinien zu zeugen und dafür zu sorgen, dass der Klang ihrer Namen über Generationen hinweg Angst und Schrecken verbreitete. Sangiorgi stieß auch auf den ersten bekannten Fall eines Ehrenmanns, der sich vor die typisch sizilianische Wahl gestellt sah, entweder einen Verwandten umzubringen oder selbst zu sterben: 1883 musste sich ein Onkel an der Ermordung seines eigenen Neffen beteiligen, der ebenfalls der Mafia angehörte. So lauteten nun einmal die Regeln in der Bruderschaft von Favara, der Mafia der Schwefelminen.
In Kalabrien wurden in den 1880 er und 1890 er Jahren Familienangelegenheiten noch völlig anders gehandhabt. Die ’Ndrangheta war ursprünglich eine Gefängnissekte, in der ein Häftling den Mithäftling rekrutierte, nicht der Vater den Sohn. Erst außerhalb der Gefängnisse verbreiteten sich auch die
picciotti
über Verwandtschaftswege. Die ältesten Prozessakten über die
Picciotteria
verzeichnen Brüder, Vettern und andere Verwandte unter den Mitgliedern – wie sollte es auch anders sein angesichts der Inzuchtklüngel in den entlegenen kalabrischen Gemeinden. Bald schon gesellte sich eine erste Generation von Söhnen zu ihren kriminellen Vätern. Ein Beispiel: Wenn die Polizei mit Giuseppe Musolino, dem »König des Aspromonte«, richtiglag, dann hatte sein Vater die
Picciotteria
in Santo Stefano gegründet. So waren Familie und Bandenwesen sehr schnell miteinander verflochten. Doch in den Anfangsjahren scheinen hinter dieser Verflechtung kaum strategische Erwägungen gesteckt zu haben: Die
picciotti
hielten über familiäre Angelegenheiten keine Versammlungen ab, stellten keine Regeln auf, wer wen heiraten durfte, zerschnitten keine Gesichter aufgrund von
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