Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
und Prügel wurden somit nicht zur Anzeige gebracht.
Aus diesen Gründen war der fliegende
capo
aus Antonimina eher ein Atavismus als ein Herold, denn die Zukunft, die er mit seinem Beispiel beschwor, war deprimierend vertraut: Im kalabrischen Kernland der Mafia wählten selbst gut ausgebildete junge Männer, die etwas von der Welt gesehen und die Chancen wahrgenommen hatten, die staatliche Einrichtungen ihnen boten, lieber die Karrierewege, die ihnen die Mafiagewalt versprach.
Die Gruppe um Domenico Noto wies viele der Schwächen auf, die bereits die
picciotti
des ausgehenden 19 . Jahrhunderts geprägt hatten. Neue Mitglieder mussten eine Aufnahmegebühr entrichten (die mittlerweile 25 oder 50 Lire betrug). Wie die frühen
picciotti
schikanierten Noto und seine Männer Schwächere, bis sie die Gebühr bezahlten. Eines ihrer Opfer war ein 16 -jähriger Hühnerdieb. Nach den traditionellen Regeln der Ehrenwerten Gesellschaft wäre diesem Jungen niemals erlaubt worden, der Vereinigung beizutreten, weil beide Schwestern Prostituierte waren. Er aber durfte trotzdem das Gelübde ablegen und wurde dann gnadenlos ausgenutzt. Empört über die Behandlung, die man ihm angedeihen ließ, wandte er sich später mit einer entscheidenden Zeugenaussage an die Behörden, ein ungeheuerlicher Verstoß gegen das Schweigegebot, das die Vertreter von Polizei und Justiz dennoch nicht im mindesten überraschte. Einer der Richter brachte es auf den Punkt: »Wie die Rechtspsychologie uns lehrt, verraten Mitglieder krimineller Vereinigungen einander stets gegenseitig, denn die Solidarität zwischen ihnen ist nur oberflächlich.« Die kalabrische Mafia war demnach noch weit davon entfernt, zu jenem Inbegriff der Omertà zu werden, der sie heute ist.
Im Heimatland der
Picciotteria
hatten es die Gerichte überall mit ähnlichen Banden zu tun, die sich aus ehemaligen Soldaten und altgedienten Ganoven zusammensetzten, und mit ähnlichen Verstößen gegen das Schweigegebot. In Rosarno, einem Ort in der Ebene von Gioia Tauro, »wurde die Einwohnerschaft terrorisiert«: Am helllichten Tag kam es zu Messerstechereien, Sabotageakten, Überfällen und Angriffen auf die Carabinieri. Ein ähnliches Bild bot sich in und um Africo. Wie einer der Richter feststellte, kam es nach der Heimkehr der Soldaten zu einem »jähen, deutlichen Anstieg der Eigentumsdelikte«. Im Chaos der Demobilisierung und der damit einhergehenden Wirtschaftskrise tauchten die
picciotti
wieder auf.
Nach 1925 bekämpften die faschistischen Machthaber auch in Kalabrien die Mafia, wie bereits in Sizilien und Kampanien. Auch hier kam es zu mehreren hundert Verhaftungen und etlichen großen Gerichtsverfahren, besonders zwischen 1928 und 1930 . Doch im Gegensatz zur Operation Mori auf Sizilien und zu den Razzien von Major Anceschi in den Mazzoni-Sümpfen wurde das scharfe Vorgehen der Faschisten in Kalabrien von der einheimischen Presse nur mit wenigen Zeilen kommentiert und von den überregionalen Zeitungen gänzlich ignoriert – und dies noch vor der Nachrichtensperre hinsichtlich der »Südfrage« zu Beginn der 1930 er Jahre. Mit dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen in Italiens ärmster Region war auch unter den Faschisten keine Ehre einzulegen.
In seiner Himmelfahrtsrede des Jahres 1927 zeichnete Benito Mussolini ein stark vereinfachtes Bild von seinem Feldzug gegen die Mafia: Auf der einen Seite der Faschismus, auf der anderen das organisierte Verbrechen – zwei mächtige Blöcke, die einander in Feindschaft gegenüberstanden. Die
Picciotteria
jedoch erwähnte er mit keinem Wort. Dieses Schweigen ist vielsagend, nicht zuletzt deshalb, weil die marmorne Rhetorik Mussolinis an der kalabrischen Realität zerschellt war. Mancherorts konnte der Staat durch tapfere Polizisten und schlaue Ermittler Stärke demonstrieren. Dann wieder gab er sich mit sträflicher Naivität, feiger Brutalität, dümmlichen Posen und träger Verdunkelung bedenkliche Blößen.
In den Fragmenten faschistischer Anti-Mafiapolitik, die in den Archiven verfügbar sind, können Historiker ein bestimmtes Muster ausmachen. Ein Teil davon ist Kontinuität: In einigen Gebieten Südkalabriens gebärdeten die
picciotti
sich nach wie vor wie der fliegende Boss aus Antonimina und seine Anhänger nach dem Ersten Weltkrieg und machten im selben Stil weiter, nachdem der Faschismus gefallen war. Andernorts dagegen schwoll die
Picciotteria
zu etwas weitaus Schrecklicherem an, als es die Sekte aus Exsträflingen
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