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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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Verstößen gegen die dynastische Etikette.
    Die heutige ’Ndrangheta ist unempfindlicher gegen Repressionen als die sizilianische Mafia oder die neapolitanische Camorra; ihre Geheimnisse sind strenger gehütet, weil kaum ein Mitglied sich als Kronzeuge zur Verfügung stellt. Jeder Richter oder Polizist in Kalabrien wird die Frage, warum dem so ist, mit einem einzigen Wort beantworten: Familie. Heutzutage ist die ’Ndrangheta sogar noch familienzentrierter als die sizilianische Mafia: Den Mittelpunkt jeder
’ndrina
bildet oftmals ein einzelner Boss mit seinen zahlreichen männlichen Nachkommen. In abgehörten Gesprächen aus dem Jahr 2010 diskutieren ’Ndranghetisti über das Prinzip der »Linie«, wie sie es nennen. Damit ist das Vererbungsprinzip gemeint, nach dem der neue Boss bestimmt wird (von Roghudi in diesem Fall). Die Regel, dass ein Sohn seinen Vater beerben sollte, ist zwar nicht unumstößlich, aber dennoch eine Regel. In der sizilianischen Mafia existiert kein Gesetz dieser Art, auch wenn oftmals die Söhne der Bosse ihren Vätern in Führungspositionen nachfolgen.
    Die
Picciotteria
besaß zwar schon ähnliche Rituale und eine ähnliche Struktur wie die heutige ’Ndrangheta, doch fehlte es ihr noch an deren starker Verwandtschaftsbasis. Die
Picciotteria
bediente sich erst nach und nach des gesamten kriminellen Potentials der Blutsbande. Der Tod gehörte von Anfang an zur gemeinsamen Angelegenheit der kalabrischen Mafia; Geburten und Hochzeiten dagegen wurden erst in den zwei Jahrzehnten des Faschismus ins Regelwerk übernommen. Die Veränderung vollzog sich langsam und ungleichmäßig, war aber von wesentlicher Bedeutung für das weitere Erstarken der
Picciotteria
.
    Als die faschistische Diktatur in Rom etabliert war, kamen den Richtern neuartige Familiengeschichten von den Gangstern in Kalabrien zu Ohren. In der Ortschaft Vibo Valentia, nördlich von Gioia Tauro, wurde 1927 ein Carabiniere ermordet, weil er versucht hatte, ein Ehebündnis zwischen zwei kriminellen Familien zu verhindern, von denen die eine die faschistische Verwaltung vor Ort infiltriert hatte.
    Drei Jahre später wurde weiter im Süden, in Nicoteria, ein erst elfjähriger Junge in die Ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen. Jenseits der Berge im Südosten, in Grotteria, kam 1933 dem dortigen Boss das Gerücht zu Ohren, seine Verlobte sei von einem anderen
picciotto
geschwängert worden. Die Bande hielt eine Versammlung ab, um über den Fleck auf der Ehre ihres
capo
zu diskutieren, und man beschloss, einen Killer zu beauftragen. Überraschenderweise war dessen Ziel nicht etwa der mutmaßliche Liebhaber der Frau, sondern derjenige, der das Gerücht in Umlauf gebracht hatte. Hörensagen galt im dynastischen Machtkampf schließlich schon immer als die gefährlichste aller Waffen. Der ausgewählte Killer, ein 16 -jähriger Junge, musste sechs Anläufe nehmen, bevor es ihm endlich gelang, seinem Opfer ordentlich die Kehle durchzuschneiden.
    Solche Geschichten sind vielsagend. Um nachzuvollziehen, wie sich die Heiratspolitik der frühen ’Ndrangheta entwickelte, lohnt aber vor allem ein Blick auf die sich verändernde Rolle der Frau. Italiens kriminelle Vereinigungen waren von Beginn an in überwältigendem Maße männlich geprägt und von Natur aus sexistisch. Mafiaehre ist seit jeher ausschließlich Männersache. Dennoch kamen auch den Frauen der Mafiosi und Camorristi wichtige Funktionen zu, und es gab merkliche Unterschiede in der Art und Weise, wie man sich ihrer bediente.
    Die Frau, die sich am häufigsten in Gesellschaft der frühen ’Ndranghetisti befand, war die Hure. Während sizilianische Mafiosi noch nie von der Prostitution profitiert hatten, waren die ersten kalabrischen
picciotti
meist Zuhälter. Für gewöhnlich feierten sie mit den Mädchen, deren Einkünfte sie abschöpften. (Sie vergewaltigten sie, und zuweilen heirateten sie sie sogar – zumal die Geschäftsbeziehung zwischen einem Zuhälter und seinen Mädchen sehr oft auch intimer Natur ist.) Im Gegensatz zu ihren Zeitgenossen in der sizilianischen Mafia und im Gegensatz zu den heutigen ’Ndranghetisti betrachteten es die kalabrischen Ganoven des ausgehenden 19 . und beginnenden 20 . Jahrhunderts nicht als unehrenhaft, vom Sexgeschäft zu profitieren.
    In dieser Hinsicht glich die
Picciotteria
der Ehrenwerten Gesellschaft Neapels im 19 . Jahrhundert. Der Slang der neapolitanischen Camorra strotzte geradezu von abwertenden Synonymen für

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