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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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Hauptverkehrsader. Hin und wieder bestiegen er und zwei oder drei seiner Ganoven einen kleinen roten Fiat Balilla, um Freunde zu treffen und in einem der vielen mafia-dominierten
borgate
Palermos Mordanschläge zu planen.
    Nach fünf Jahren akribischer Ermittlungsarbeit konnte das Inspektorat seinen Bericht von 1938 mit einer glasklaren Beschreibung der Struktur der Mafia abschließen, die die Ansichten des Eisernen Präfekten Zeile für Zeile zu demontieren schien.
    »Die Mafia ist keineswegs nur eine Geisteshaltung oder eine Denkgewohnheit. Vielmehr verbreitet sie diese Geisteshaltung, diese Denkgewohnheit aus dem Inneren einer richtigen Organisation heraus. Sie ist in sogenannte Familien unterteilt, die wiederum aus ›Zehnergruppen‹ bestehen und von offiziell gewählten ›Bossen‹ oder ›Repräsentanten‹ geleitet werden. Die Mitglieder oder ›Brüder‹ müssen mit einem Schwur ihre Treue und bedingungslose Verschwiegenheit besiegeln.«
    Dieser Eid ging erwartungsgemäß mit einem Stich in den Finger einher. Das austretende Blut tropfte auf ein Heiligenbildchen, das in der Hand angezündet wurde, während der Novize Treue gelobte bis in den Tod.
    Die Mafia war nach Art der Freimaurer wie ein Geheimbund organisiert. Jede Familie gehorchte einem Oberhaupt, dem »Repräsentanten«, dem auch die Kontakte zu den ausländischen Zweigen der Organisation oblagen – in den USA , in Frankreich und Tunesien. Die Familien in den Provinzen Trapani, Agrigent und Caltanissetta blickten in schwierigen Zeiten nach Palermo und gehorchten dem dortigen Boss. Die Mafia, erklärte das Inspektorat, verfüge »über eine organische und harmonische Struktur mit klar definierten Normen«. Sie werde »von Männern geleitet, die über jeden Verdacht erhaben« seien. Im Zentrum des Mafianetzes gab es einen »Boss der Bosse« oder »Generalissimus«: Ernesto Marasà.
    Der Bericht des Inspektorats aus dem Jahr 1938 wurde in mehreren Abschriften an ranghohe Vertreter von Justiz und Polizei geschickt. Die 48 tapferen Männer, die ihre Namen unter das Dokument gesetzt hatten, hofften inständig, mit ihren Ermittlungsergebnissen wirkliche Veränderungen in Sizilien herbeizuführen. Ihre Verzweiflung äußerte sich in der entrüsteten, leidenschaftlichen Umschreibung für die Mafia, dem unheimlichen Beinamen »schleimiger Krake« (als könne ein so raffiniertes Ungeheuer tatsächlich nur einen Kopf haben), und auch im Schlusssatz, der absichtlich die Schlagworte in Mussolinis Himmelfahrtsrede aufgriff. Irgendwo, so ihre Hoffnung, werde ihr Bericht einem Menschen unter die Augen kommen, der fest entschlossen dafür Sorge trage, dass den Schlachtrufen des Faschismus Taten folgten: Es dürfe kein »Zögern« geben angesichts eines Übels, das »Sizilien in Schande stürze«; der Staat müsse erneut das »Skalpell« gegen die Mafia ansetzen.
    Der kenntnisreiche Bericht des Inspektorats von 1938 macht uns aus zweierlei Gründen schaudern. Erstens liefert er uns den ersten unstrittigen Beweis dafür, dass es sich bei der sizilianischen Mafia um eine einzige, straff organisierte kriminelle Struktur handelte, die den gesamten Westen Siziliens umspannte. Begriffe wie »Familie«, »Repräsentant« und »Boss der Bosse« waren noch nie zuvor in der Geschichtsschreibung aufgetaucht. Zweitens würden noch Jahre vergehen und viele tapfere Polizisten, Carabinieri und Richter ihr Leben lassen, bis die italienische Justiz im Jahre 1992 endlich ein Diagramm von der sizilianischen Mafia gelten ließe, identisch mit demjenigen, welches das Inspektorat erstellt hatte.
    1938 jedoch bestand nicht die geringste Aussicht, dass der faschistische Staat erneut gegen das organisierte Verbrechen mobil machen würde. Vielmehr sprach einiges dafür, dass der Faschismus die Mafia nicht zerschlagen würde: zum Beispiel die strikte Weigerung des Eisernen Präfekten zu glauben, dass er es mit einem Geheimbund zu tun hatte. Oder seine plumpe Einschätzung der sizilianischen Mentalität. Oder die Tendenz der Faschisten, verdächtige Personen in Strafkolonien abzuschieben: kein Lärm, kein Gerichtsverfahren. Wer sich nämlich an frühere Maßnahmen gegen die Mafia erinnerte, der wusste genau, dass dieses Vorgehen gegen das organisierte Verbrechen in etwa so viel Wirkung zeigte, als versuchte man das Unkraut im Garten zu bekämpfen, indem man es ins Gewächshaus verpflanzte.
    Die Operation Mori war nur eine kurzfristige Lösung. Sie zog lediglich einen resoluten Strich zwischen

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