Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
sizilianischen Familien waren zerschlagen. Die Mafia war wie eine Pflanze, die nicht mehr kultiviert wurde.«
So war man sich unter Historikern bis vor kurzem noch weitgehend einig, was den gewaltigen Feldzug des Eisernen Präfekten gegen das organisierte Verbrechen in Sizilien anbelangte: Die Mafia war nicht zerstört worden, hatte sich aber der polternden Macht des faschistischen Staates gebeugt.
Bis vor kurzem.
Bis 2007 , um genau zu sein, als der führende Mafiaforscher in Italien einen beunruhigenden Bericht ausgrub, der vergessen im Staatsarchiv von Palermo gelegen hatte. Wegen dieses Berichts – viele hundert Seiten lang, wenn man die 228 Anhänge mit einschließt – muss die Geschichte vom »letzten Gefecht« der Faschisten gegen die Mafia völlig neu geschrieben werden. Einige der besten Nachwuchshistoriker Siziliens sind derzeit mit der Aufgabe betraut. Wie sich herausstellte, beinhaltete die Operation Mori die raffinierteste Lüge in der Geschichte des organisierten Verbrechens.
Der Bericht datiert vom Juli 1938 und beschreibt den Zustand von Gesetz und Ordnung auf Sizilien seit dem letzten großen Mafiaprozess, der Ende 1932 abgeschlossen war. Nicht weniger als 48 Männer waren an seiner Entstehung beteiligt gewesen, allesamt Mitglieder eines Sonderkommandos aus Carabinieri und Polizei mit dem schwerfälligen Namen »Königliches Generalinspektorat für die Öffentliche Sicherheit in Sizilien« – kurz: das Inspektorat. Und die Mehrzahl seiner Mitglieder waren Sizilianer, ihren Nachnamen nach zu urteilen.
Der Bericht beginnt folgendermaßen:
»Obwohl Polizei und Justiz [während der Operation Mori] wiederholt rigoros gegen die kriminelle Organisation vorgegangen sind, die in Sizilien und anderswo unter dem vagen Begriff ›Mafia‹ bekannt ist, hat diese überlebt; ihr Fortbestehen war niemals ernstlich in Gefahr. Dass dennoch dieser Eindruck entstehen konnte, ist allenfalls einigen trügerischen Ruhephasen geschuldet (…) So konnte man glauben – und arglistige Menschen gaben sich große Mühe, die Vermutung zu bestätigen –, die Mafia sei nun gänzlich ausgerottet. Dabei war man lediglich einem gerissenen, raffinierten Schachzug auf den Leim gegangen, ausgeheckt von den vielen führenden Köpfen der Mafia, die die Repressionen unbeschadet überstanden hatten oder ohnedies über jeden Verdacht erhaben waren. Es war ihnen hauptsächlich daran gelegen, die Behörden zu täuschen und die sogenannte öffentliche Meinung zu zermürben, um am Ende noch ungenierter agieren zu können.«
Die Mafia habe dem Faschismus einen mächtigen Bären aufgebunden, behauptete das Inspektorat. Einige Bosse hatten den Propagandasog der Operation Mori für sich genutzt und so getan, als seien sie von der Bildfläche verschwunden. Dabei verfolgte die Mafia ihren eigenen Propagandaplan – besiegt erscheinen –, und ihre Botschaft wurde von den Megaphonen des faschistischen Regimes willfährig herumposaunt. Womöglich waren in Wahrheit die Bosse aus Palermo selbst federführend bei Cesare Moris
Letztem Gefecht gegen die Mafia
.
Der Bericht aus dem Jahr 1938 beginnt 1933 , kaum ein Jahr nach dem letzten Mori-Prozess, als eine Verbrechenswelle über das Land rollte, die so gewaltig war, dass die Polizeistrukturen, die der Eiserne Präfekt errichtet hatte, ihr nicht länger standzuhalten vermochten. Polizei und Carabinieri wurden zu einer Elitekampftruppe umstrukturiert, die die Exzesse eindämmen sollte: dem »Königlichen Generalinspektorat für die Öffentliche Sicherheit« in Sizilien. So begann der faschistische Staat den Kampf gegen die Mafia erneut. Nur durften diesmal die nationale und internationale Öffentlichkeit, nachdem sie die Berichte über die Heldentaten des Eisernen Präfekten so gierig aufgesogen hatten, nicht wissen, was vor sich ging.
Die Männer des Inspektorats fingen dort an, wo Moris Polizei 1929 aufgehört hatte. Sie trugen nach und nach eine Vielzahl von Beweisen zusammen, die zeigten, dass die Mafia im Westen Siziliens besser organisiert war, als irgendwer – ausgenommen vielleicht Polizeichef Ermanno Sangiorgi – es vermutet hätte: Den »schleimigen Kraken« nannten sie die Organisation.
Als Ausgangspunkt hatten sie die Provinz Trapani gewählt, an der Westspitze der Insel, wo die Operation Mori am wenigsten bewirkt hatte und das kriminelle Chaos am schlimmsten war: »Hier regiert die Mafia mit allen verfügbaren Mitgliedern«, stellte das Inspektorat fest. Nachdem man
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