Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
überregional Schlagzeilen.
Mitnichten jede Information über die Camorra, die es an die Öffentlichkeit schafft, verdient es, ernst genommen zu werden. Wie seit jeher der Fall, sind Camorradramen oft öffentliche Spektakel, ein Umstand, in dem sich ein Quäntchen neapolitanische Lebensart spiegelt. Einigen Lokalzeitungen in Kampanien wurde vorgeworfen, sie fungierten als eine Art Schwarzes Brett für die Clans. Dann gibt es die »neomelodischen« Sänger, deren Arbeit zuweilen eine kaum verhohlene Apologie für die Camorra ist. 2010 nahm der »Neomelodiker« Tony Marciano den Song »Wir dürfen nicht aufgeben« auf, in dem ein flüchtiger Gangster gegen
pentiti
wettert, die gegen die Omertà verstoßen und »ein Imperium zu Fall gebracht« haben. Im Juli 2012 wurde Marciano verhaftet. Er stand im Verdacht, mit Drogen zu handeln. Der Haftbefehl beschreibt ihn als jemanden, der dem Gionta-Clan nahesteht, »so nahe, dass er ständig zu privaten Feiern eingeladen wurde, die von den Unterstützern und Mitgliedern dieser Organisation veranstaltet worden waren«. Marcianos einziger Kommentar, als die Carabinieri ihn abführten, lautete: »Wenn ich ein Konzert gebe, kommen nicht so viele Kameras.«
Die meiste Zeit galt die ’Ndrangheta als die kauzige Mafia: Sie hat es versäumt, unentwegt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Einige grundlegende Tatsachen können erklären, warum dem so war. Kalabrien ist vergleichsweise klein: Auf Sizilien leben 5 , 05 Millionen Menschen, in Kampanien 5 , 8 Millionen, dagegen nur 2 , 2 Millionen in der Stiefelspitze. Kalabrien ist auch politisch eher unbedeutend, und seine Medien sind kaum präsent: Die wichtigste Zeitung der Region, die
Gazzetta del Sud
, hat nicht einmal ihren Sitz in Kalabrien, sondern erscheint jenseits der Meerenge im sizilianischen Messina. Lange Zeit war die zyklische Gewalt zwischen den Clans der kalabrischen ’Ndrangheta, aus der Sicht Turins oder Triests, allzu rasch als atavistisch, unheilbar und irrelevant abgetan worden. Die Flut von Entführungen in den siebziger und achtziger Jahren erregte hauptsächlich deshalb die Gemüter, weil viele der Opfer aus dem Norden stammten. Abgesehen von den Entführungen wurde der Platz, den überregionale Nachrichtensendungen für Mafiageschichten zur Verfügung stellten, von den Ereignissen in Palermo oder Neapel eingenommen. Unterdessen gedieh die ’Ndrangheta im Verborgenen.
Eine der signifikantesten Entwicklungen der letzten Jahre ist die Tatsache, dass die übliche Gleichgültigkeit Italiens angesichts der Bedrohung durch die ’Ndrangheta allmählich verschwindet. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Aktionen der ’Ndrangheta selbst. Im Oktober 2005 wurde der zweite Vorsitzende der kalabrischen Regionalversammlung, Francesco Fortugno, in Locri ermordet: Es war der spektakulärste Mafiamord an einem Politiker im 21 . Jahrhundert.
Die Ereignisse in der deutschen Stahlstadt Duisburg 2007 erregten sogar noch größeres Aufsehen. In den frühen Morgenstunden des 15 . August wurden sechs Männer kalabrischer Herkunft, der jüngste ein 16 -jähriger Junge, vor einem italienischen Restaurant in ihren Fahrzeugen hingerichtet. Ihre Tode waren der Schlussakt einer 16 Jahre währenden Fehde zwischen zwei Gruppierungen der ’Ndrangheta, beide in San Luca, auf dem Aspromonte, heimisch. Die Wucht der Fehde hatte sich auch auf die Ableger der Clans in Deutschland übertragen.
So zynisch es sich anhört, aber die Duisburg-Morde geschahen zur rechten Zeit am rechten Ort. Nachdem der »Traktor« Provenzano im Jahr davor verhaftet worden war, hatte die Cosa Nostra ihren Platz in den Medien geräumt, den nun die ’Ndrangheta einnehmen konnte. Für die meisten Italiener kam die Vorstellung, dass sich die ’Ndrangheta weit über die bewaldeten Hänge des Aspromonte hinaus verbreitet hatte, völlig überraschend; dass sie auch in Deutschland fest verankert war, war ein Schock.
Wichtige Indikatoren für Italiens neu entdeckte Furcht vor der ’Ndrangheta folgten auf dem Fuß. 2008 erstellte ein kalabrischer Mitte-links-Politiker den ersten umfassenden Bericht über die parlamentarische Untersuchung in Sachen ’Ndrangheta – etwa 130 Jahre nachdem sie das Gefängnissystem verlassen hatte. Die Sichtbarkeit der kalabrischen Gangster in aller Welt hat ebenfalls zugenommen: Im Juni desselben Jahres schloss Präsident Bush sie in den
Foreign Narcotics Kingpin Designation Act
mit ein – eine Art
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