Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Schwarze Liste ausländischer Drogenhändler.
2010 war ein wichtiges Jahr, sowohl in Hinblick auf großangelegte Einschüchterungsaktionen durch die ’Ndrangheta als auch in Hinblick auf eine Reaktion seitens des italienischen Staates. Im Januar detonierte eine Bombe vor der Staatsanwaltschaft in Reggio Calabria – niemand kam zu Schaden. Achtzehn Tage später wurde am Morgen des Tages, für den der Staatspräsident seinen Besuch in der Stadt angekündigt hatte, ein Fahrzeug voller Waffen und Sprengstoff in Reggio Calabria gefunden. Andere Warnungen folgten, einschließlich einer Bazooka, die unweit der Büroräume des Oberstaatsanwalts abgelegt worden war. Noch im selben Jahr wurde der Text des Rognoni-La Torre-Gesetzes endlich abgeändert und schließt seither explizit die ’Ndrangheta mit ein.
Schließlich ist die kalabrische Mafia noch ein verhältnismäßig neues Phänomen. 1979 erschien auf Italienisch nur ein Buch mit dem Wort ’Ndrangheta im Titel. 1980 gab es kein einziges, 2010 und 2011 insgesamt über 20 . Mittlerweile werden sogar Beschwerden laut, man könne neuerdings zu viele Bücher über das organisierte Verbrechen in Kalabrien lesen. Wie kurz einige Gedächtnisse sind. Die Historiker, die Pionierarbeit leisteten, die tapferen kalabrischen Richter und Journalisten, die sich jahrzehntelang bemühten, das Problem ’Ndrangheta zu dokumentieren, und die jetzt endlich die breite Leserschaft gefunden haben, die sie verdienen, gehören nicht zu den Nörglern.
Die Ermittlungsrichter der Antimafia-Staatsanwaltschaft im Bezirk Reggio Calabria (der »Pool«) haben unlängst Erfolge erzielt, die der erwachten Neugier der Öffentlichkeit Rechnung tragen. Genau wie für Sizilien kann man die außergewöhnliche Überwachungsarbeit, die dort von den Carabinieri geleistet wurde, auf YouTube bewundern. Der denkwürdigste Clip zeigt eine Gruppe von Männern, zumeist mittleren Alters, und allesamt so leger gekleidet, als schlenderten sie nur die Straße entlang zu ihrem örtlichen
circolo
, um eine Runde Karten zu spielen oder ein Glas Wein zu trinken. Man sieht, wie sie vor einer kleinen weißen Madonnenstatue innehalten, die auf einer zwei Meter hohen steinernen Säule thront. Für jeden, der schon einmal in Polsi war, ist der Ort unverwechselbar: Es ist das mittelalterliche Madonnenheiligtum auf dem Aspromonte. Staatsanwälten zufolge – und bisher haben die Gerichte ihrer Darstellung zugestimmt – geschieht nun das, was ein sakraler Moment im Lebenszyklus der ’Ndrangheta ist. In jedem Jahr mischen sich Bosse aus ganz Kalabrien unter die Pilger, um die Ernennung hochrangiger Mitglieder der kalabrischen Mafia zu ratifizieren. Sobald sie sich alle vor der Muttergottesstatue versammelt haben, bilden die Männer auf dem grobkörnigen Film langsam einen Kreis und lauschen andächtig, während der älteste seinen Glaubenssatz spricht:
»Was wir hier haben, würde ohne mich nicht existieren (…) Ich wurde vier Jahre vor allen anderen mit der
santa
ausgezeichnet. Dann gaben sie mir den
vangelo
(…) Es gibt eine Regel: Die Ämter können nicht irgendwann vergeben werden, sondern nur zweimal im Jahr, und nur in der Gemeinschaft. Wir müssen alle beisammen sein! Das ›Große Verbrechen‹ gehört nicht nur einem allein: Es gehört allen!«
Santa
und
vangelo
sind hochrangige »Blumen« beziehungsweise »Gaben« der ’Ndrangheta – bleibende Statussymbole, jedes durch ein besonderes Initiationsritual gekennzeichnet. (Die Einführung der
santa
oder
Mamma Santissima
war der Auslöser für den ersten ’Ndrangheta-Krieg im Jahre 1974 .) Diese »Gaben« verschaffen ihren Trägern Zugang zu höheren Positionen oder Ämtern im Führungsgremium der ’Ndrangheta, dem »Großen Verbrechen«, auch als »Verbrechen« oder »Provinz« bekannt. Der Mann, der dabei gefilmt wurde, wie er sich im September 2009 an den Kreis der ’Ndranghetisti in Polsi wandte, war der 79 -jährige Domenico Oppedisano, der kurz zuvor zum
capocrimine
(Boss des Verbrechens) gewählt worden war, das höchste Amt der ’Ndrangheta. (Oppedisano wurde festgenommen und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Ein Berufungsverfahren ist im Gang.)
Was also tut das Große Verbrechen genau? Und wie mächtig ist der
capocrimine
? Laut Aussage der Staatsanwälte und Richter, die bisher in dem Fall entschieden haben, sind Vergleiche mit der Kommission der Cosa Nostra und mit einem diktatorischen Superboss wie Totò Riina ziemlich fehl am Platz. Domenico
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