Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
ansässig waren. Die beiden Botschaften in der Geschichte waren klar: Erstens wurde das Kokain für den europäischen Markt direkt in Kolumbien bezogen. Und zweitens rangierte die Cosa Nostra als Geschäftspartner für die südamerikanischen Kokainbarone jetzt bestenfalls an zweiter Stelle.
Daheim in Kalabrien erhielten die Geschäfte der ’Ndrangheta Anfang der 1990 er einen gewaltigen Aufschwung, als endlich der riesige Containerumschlaghafen in Gioia Tauro fertiggestellt war. Der Hafen war das einzige konkrete Vermächtnis des »Colombo-Pakets« – jener industriellen Investitionen, die der Bevölkerung in Reggio Calabria nach den Revolten von 1970 in Aussicht gestellt worden waren. Trotz umfassender Sicherheitsmaßnahmen wurde das Kokain von Anfang an durch den Hafen von Gioia Tauro geschleust: Dank schärferer Kontrollen konnten 2011 über 2000 Kilogramm sichergestellt werden. Welchen Prozentsatz vom Gesamtvolumen der Kokainimporte diese Zahl darstellt, weiß niemand.
Dabei ist der Hafen von Gioia Tauro nur eine von vielen Möglichkeiten für ’Ndranghetisti, die für ihr Kokain ein Tor nach Europa suchen. Die ’Ndrangheta hat in den größeren europäischen Häfen Männer postiert, vornehmlich in Spanien, Belgien und Holland. Als ab 2003 die Behörden in Europa Importe aus Südamerika schärfer kontrollierten, nutzten die Kalabresen auch afrikanische Länder als Zwischenlager für Kokain. Große Lieferungen wurden per Schiff nach Senegal, Togo, an die Elfenbeinküste oder nach Ghana gebracht und dann in kleinere Pakete verteilt für die Einfuhr nach Italien per Schiff, Flugzeug oder Drogenkurier.
Die ’Ndrangheta verfügt auch über lokale Verteilungsnetze. Wir haben bereits gesehen, wie die ’Ndrangheta seit den 1950 er Jahren am erfolgreichsten von allen süditalienischen Mafias Kolonien in Norditalien errichtet hat. Heutzutage vermutet man dort ganze 50 ’Ndrangheta-
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. Wenn man bedenkt, dass nach kalabrischem Gesetz ein
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aus mindestens 49 Ehrenmännern bestehen muss, lässt die Zahl darauf schließen, dass es im Norden wenigstens 2450 Mitglieder gibt. Nach der Gangmaster-, Bau- und Entführungsindustrie war es nun der Kokainhandel, den diese
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im Norden im großen Stil betrieben, während sie noch intensiver die Regionalverwaltung und die Wirtschaft unterwanderten.
Das Problem ist auch keineswegs auf Italien beschränkt. Seit den 1960 er Jahren sind Tausende Kalabresen auf der Suche nach Arbeit in andere europäische Länder ausgewandert. In der ehrlichen Mehrheit verbargen sich ’Ndranghetisti, die ein Netzwerk aufbauten, mit dem sich keine andere Mafia vergleichen kann. Am besten veranschaulicht den Einfluss der ’Ndrangheta in Europa eine Geschichte, die nicht direkt etwas mit Kokain zu tun hat: Es ist die Geschichte des Geschäftsmannes Gaetano Saffioti, der sich auf Beton spezialisiert hatte. Nachdem er der kalabrischen Mafia jahrelang Schutzgeld gezahlt hatte, lehnte er sich 2002 gegen die Gangster auf und überreichte den Ermittlern Videofilme als Beweismittel, die Dutzende ’Ndranghetisti hinter Schloss und Riegel brachten. Seit dieser Zeit lebt Saffioti mit einer bewaffneten Eskorte und hat keinen einzigen öffentlichen Auftrag in Kalabrien mehr erhalten. Sobald er versuchte, außerhalb seiner Heimatregion Handel zu treiben, machte man ihm einen Strich durch die Rechnung. In der toskanischen Stadt Carrara wurden sieben seiner Lkws angezündet. Geradezu heimtückisch ist, dass er überall in Italien einem schweigenden Boykott begegnete: Potentiellen Kunden wurde geraten, sich besser nicht mit dem kalabrischen Verräter sehen zu lassen. Saffioti begab sich ins Ausland auf der Suche nach Aufträgen. 2002 und 2003 wurden auch seine Maschinen in Frankreich und Spanien angezündet, und auch in anderen europäischen Ländern war eine Flüsterkampagne gegen ihn am Werk. Er macht mittlerweile Geschäfte mit der arabischen Welt, wo es, wie er sagt, größere kommerzielle Freiheit gibt für jemanden wie ihn.
Die Reichweite der ’Ndrangheta beschränkt sich nicht auf Europa. Kalabrische Mafiosi sind seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Kanada vertreten. 1911 wurde Joe Musolino – der Vetter Giuseppe Musolinos, des »Königs des Aspromonte« – verhaftet, weil er in Ontario eine Erpresserbande angeführt hatte. Ein weiteres Beispiel ist Australien: Die ’Ndrangheta wurde dort bereits vor dem Zweiten Weltkrieg heimisch. Zu Beginn der dreißiger Jahre konnten
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