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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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Führungsgremium der ’Ndrangheta, dem Großen Verbrechen, treten am Festtag um Mitternacht in Kraft.
    Der Wallfahrtsstätte von Polsi am nächsten gelegen ist San Luca, Heimatort des Schriftstellers Corrado Alvaro, aus dem auch die
’ndrine
(lokale Mafiagruppen) stammten, die an den Morden in Duisburg 2007 beteiligt waren. ’Ndranghetisti bezeichnen San Luca als ihre
Mamma
; die dortige ’Ndrangheta hütet traditionellerweise die Regeln der gesamten Vereinigung und fungiert als Schiedsinstanz bei Streitfragen. San Luca wurde schon als das »Bethlehem« des organisierten Verbrechens in Kalabrien bezeichnet.
    Wir dürfen mittlerweile sicher sein, dass das Verbrechertreffen in Polsi eine alte Tradition ist, so alt wie die ’Ndrangheta selbst. Denn im Juni 1895 erzählte ein Ladenbesitzer aus Roccaforte del Greco den Beamten, die den Mord an Pietro Maviglia untersuchten, was er in Polsi beobachtet hatte:
    »Am 3 . September 1894 begab ich mich zum Fest der Madonna vom Berg. Dort sah ich etliche Mitglieder der kriminellen Vereinigung aus Roccaforte in Gesellschaft von etwa 60  Leuten aus verschiedenen Dörfern, die alle in einem Kreis sitzend aßen und tranken. Als ich sie fragte, wer für das viele Essen und den Wein auf dem Fest bezahle, da sagten sie mir, dass sie es mit der Camorra bezahlten, die sie einsammelten.«
    Offenbar nutzten
picciotti
die Wallfahrt nach Polsi seit jeher weniger zum Gebet denn als Gelegenheit, Gewinne einzustreichen und über Geschäfte zu reden.
    Die Ermittlungen von Feldwebel Labella förderten weitere verstreute Zeugenaussagen über den Ursprung der
Picciotteria
zutage. Obwohl er nicht hatte eruieren können, in welchem Jahr genau sie entstanden war, konnte es seiner Meinung nach nicht nach 1887 gewesen sein. In diesem Jahr war nämlich der »Richter« der Sekte, Andrea Angelone, aus der Haft entlassen worden. Andere Zeugen schoben das Gründungsdatum noch weiter nach hinten. Ein Bewohner desselben Dorfes sagte aus, Angelone sei »schon vor 16 oder 17  Jahren« (also etwa 1879 ) Mitglied einer kriminellen Vereinigung gewesen.
    Der Grundschullehrer in Africo erwies sich als ein besonders kenntnisreicher Zeuge. Er hatte seine Stelle Mitte der 1880 er Jahre angetreten und gleich zu Beginn von einer Räuberbande munkeln gehört, die in der Gegend ihr Unwesen treibe. Doch damals hieß es, die Vereinigung bestehe »schlimmstenfalls aus drei oder vier Männern«. Ihre Zahl wuchs schnell in den darauffolgenden Jahren, besonders während der Rekrutierungskampagne Domenico Calleas 1893 und 1894 .
    Die Geschichte, die diese Zeugnisse erzählen – sie gilt auch für Palmi und den gesamten Aspromonte –, geht folgendermaßen: Bis Mitte der 1880 er Jahre hielten einige kalabrische Exsträflinge, erfahrene Gefängnis-Camorristi, miteinander Kontakt, nachdem sie aus der Haft entlassen worden waren. Sie boten sich gegenseitig ihre Hilfe an und taten sich gelegentlich zusammen, um gemeinsam das eine oder andere Ding zu drehen: Die Gerichtsakten und andere Quellen geben Auskunft über mehrere Banden, die sich in den 1870 er Jahren und bereits davor in verschiedenen Teilen der Provinz Reggio Calabria etabliert hatten. Doch fehlte es den
picciotti
noch an Mitgliedern und infolgedessen an der nötigen Stärke, um sich in der Welt außerhalb der Gefängnisse gegen andere Verbrecher so zu behaupten, wie ihnen dies in der begrenzten Gefängniswelt möglich gewesen war. Sie besaßen noch nicht genügend Macht, um ganze Städte zu tyrannisieren. In den 1880 er Jahren schließlich kam es zu gewissen Veränderungen, die es der Gefängnis-Camorra Kalabriens ermöglichten, sich auch außerhalb der Kerker zu verbreiten. Nun stellt sich die Frage, worin genau diese Veränderungen bestanden.
    Die Tatsache, dass kein Vertreter des Staates darauf erpicht zu sein schien, diese Frage zu beantworten, ist vielsagend. 1891 schrieb der Oberstaatsanwalt in Palmi seinen Bericht über die Arbeit der Justiz im vorangegangenen Jahr. Die
Picciotteria
erwähnte er mit keinem Wort: Sie galt schließlich nur als ein oberflächliches Symptom der chronischen Rückständigkeit Kalabriens. Der Grund für die hohe Gewaltrate im Bezirk Palmi sei nicht etwa das organisierte Verbrechen, schrieb der Beamte, sondern »die feurige, lebhafte Natur dieser Menschen, ihre Empfindlichkeit, die Sturheit, mit der sie an ihren Plänen festhalten, die unerschütterliche Beharrlichkeit ihrer Hassgefühle, die sie so oft dazu treiben, blutige Rache

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