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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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zu nehmen«.
    Hätte ein sizilianischer Oberstaatsanwalt solchen Unsinn geschrieben, so müsste man aus gutem Grund seine Motive in Zweifel ziehen. Doch in Kalabrien sind dergleichen Zweifel vermutlich (noch) fehl am Platz. Schließlich hatten die Richter in Palmi erst vor kurzem einige Dutzend
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wieder ins Gefängnis gebracht. Die stereotypen Ansichten des Oberstaatsanwalts zur kalabrischen Psyche sind dennoch sehr aufschlussreich. Eisenbahn hin oder her, Kalabrien galt noch immer als ein halbwildes, entlegenes Land, über das man in Italien sehr wenig wusste und sich auch nicht groß Gedanken machte. Trotz seiner internationalen Handelsbeziehungen, die er seinem Olivenöl, dem Wein und den Zitrusfrüchten verdankte, war der Ort Palmi ganz einfach zu unwichtig, als dass sich die Regierung veranlasst sähe, sich mit dem Problem der
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zu befassen. Aus diesem Grund tun heutige Historiker sich so schwer, einige offene Rätsel über den Ursprung der kriminellen Vereinigung zu lösen.
    Verschworene Sekten haben die Gefängnisse zu vielen Zeiten und an vielen Orten beherrscht: Die seit langem etablierten südafrikanischen Nummerngangs, die 26 er, 27 er und 28 er zum Beispiel, beziehen ihre Mythologie aus der Geschichte eines Zulu-Häuptlings. Oder das riesige Netzwerk der Organisation
Wory w sakone
(»Diebe im Gesetz«), die in den 1920 er Jahren das sowjetische Gulag-System heimsuchte. »Die Diebe« hatten ein »Krönungsritual« für neue Rekruten, ihre Mitglieder trugen Tattoos und ein auffälliges Outfit, zu dem ein Aluminiumkreuz um den Hals und mehrere Jacken gehörten.
    Doch gelingt es diesen Banden nicht ohne weiteres, ihre Autorität in der Welt außerhalb der Gefängnismauern zu etablieren. Die 26 er, 27 er und 28 er trieben nur in den 1990 er Jahren ihr Unwesen, nachdem die Apartheid abgeschafft war und das Land den Drogendealern offenstand, die einheimisches Menschenpotential und eine einheimische kriminelle »Marke« brauchten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen
Wory w sakone
nicht einfach aus dem Gulag, um ihren Führungsanspruch über das Heer von Verbrechern geltend zu machen, das entstanden war. Ihre Traditionen wurden vielmehr von einem neuen Schlag von Gangsterbossen geplündert, die ihren territorial verankerten Banden ein Flair von Altehrwürdigkeit verleihen wollten: Das Resultat war die Russenmafia. Beispiele wie diese zeigen, dass es für die Gefängnis-Camorra Kalabriens eine stolze Leistung war, sich die Welt außerhalb der Kerker zu erobern.
    Ausschlaggebend für diesen Erfolg dürften wohl wirtschaftliche Gründe gewesen sein. In den 1880 er Jahren wurde das Agrarland Kalabrien von einer heftigen Krise gebeutelt. Die Reblaus breitete sich auch in Italien aus und setzte dem Weinboom ein jähes Ende. Dann beschränkte ein Handelskrieg mit Frankreich den Export von Agrargütern. Kleinbauern wie die in der Ebene von Gioia Tauro, die sich verschuldet hatten, um ein Stück ehemaliges Kirchenland zu erwerben und darauf Wein anzubauen, gerieten in Not. Arme Tagelöhner, wie die in Africo, hatten noch härter zu kämpfen, um ihr Leben zu bestreiten. Umstände wie diese trieben der
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eine Menge Rekruten in die Arme, dazu viele Landeigentümer und Bauern, die entweder verwundbar oder skrupellos genug waren, um eine Übereinkunft mit den Ganoven in Erwägung zu ziehen.
    Auch die Ankunft der Dampfeisenbahn trug teilweise die Schuld, zumindest in Palmi. Zeitgenossen gaben an, dass die ersten Rasiermesserangriffe und Duelle zeitlich mit der Anwesenheit der Streckenarbeiter zusammenfielen, die im Frühjahr 1888 auf dem tyrrhenischen Gleisabschnitt schufteten. Zwölf Jahre später, um 1900 , behaupteten einige Beobachter, dass die
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von sizilianischen Mafiosi mit den Streckenarbeitern in die Ebene von Gioia Tauro importiert worden seien. Doch da keiner der Männer, die in Palmi vor Gericht standen, aus Sizilien stammte, ist diese Theorie fast mit Gewissheit falsch. Wahrscheinlicher ist, dass es unter den Arbeitern ehemalige Gefängnis-Camorristi gab. Die Kämpfe in Palmi waren vielleicht der Konkurrenz um Aufträge mit den einheimischen
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geschuldet.
    Wie dem auch sei, die Rolle der Eisenbahn bei der Entstehung der kalabrischen Mafia trug jedenfalls zu einer bitteren geschichtlichen Ironie bei. Einer der damaligen Richter meinte:
    »Unklar ist, ob die Eisenbahn mehr Schaden brachte als Nutzen. Dass solch ein mächtiger Anstoß für Zivilisation und

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