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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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dieser Zeit eine gesellschaftliche Funktion erfüllt, heißt es noch immer zuweilen. In dieser entbehrungsreichen, rückständigen Gegend hätten Mafiosi sich zusammengefunden, um eine Quelle der Autorität und ein System gegenseitiger Unterstützung zu schaffen. So in etwa lautet das Argument.
    Es mag zutreffen, dass an den Hängen des Aspromonte die frühe ’Ndrangheta ein Vakuum füllte, das der Staat hinterließ. Nur übten ihre Anhänger eine Schreckensherrschaft aus – so viel wird klar aus all den Zeugenaussagen, die die Ermittler nach Maviglias Tod zusammentrugen. An dieser Tatsache ist nicht zu rütteln, auch wenn einige Personen – auch Grundbesitzer – in Abwesenheit der staatlichen Autorität das Beste aus ihrer Lage zu machen suchten und sich mit Tyrannen verbündeten, denen sie nicht gewachsen waren. Die Mörder Pietro Maviglias, man erinnere sich, machten keinerlei Anstalten, dessen Leiche zu verstecken: Die abscheulichen Wunden, auch die Handvoll Salz, die man ihm auf die durchschnittene Kehle gestreut hatte, dienten als Warnung – eine öffentlich inszenierte »Hinrichtung«.
    Nach der Obduktion machten die Ermittlungen gegen die
Picciotteria
in Africo endlich wirkliche Fortschritte. Weitere Carabinieri kamen ins Dorf und wurden in einem Haus einquartiert, das sich unmittelbar neben dem des Domenico Callea befand. Der Buchhalter und Fechtmeister der
Picciotteria
hatte sich aus dem Staub gemacht, nachdem er die Ermordung Pietro Maviglias angeordnet hatte. Seine junge Frau war allein im Haus zurückgeblieben und hielt die Carabinieri mit ihrem Geschluchze die ganze Nacht wach.
    Die starke Militärpräsenz in Africo ermutigte weitere Zeugen zu einer Aussage. Dank der tatkräftigen Unterstützung durch Feldwebel Labella konnten die ermittelnden Beamten immer mehr Beweise aus den Leuten herauskitzeln. Maviglias Mörder wurden verhaftet. Im Verhör gaben sie klein bei: Nachdem sie sich zunächst gegenseitig beschuldigt hatten, legten sie endlich ein Geständnis ab. In den Griko sprechenden Gemeinden brach die Mauer des Schweigens um die
Picciotteria
.
    Die aus historischer Sicht vielleicht relevanteste Wahrheit, die nach Maviglias grausamem Ende ans Licht kam, war die Tatsache, dass im Zentrum des kriminellen Netzes, das die
picciotti
in den 1880 ern und 1890 ern aufgebaut hatten, ein faszinierendes religiöses Symbol stand.
    Die Wallfahrtskirche der Madonna di Polsi steht versteckt in einem Hochtal des Aspromonte. Der Legende nach kam 1144 ein Hirte an diesen abgeschiedenen Ort, auf der Suche nach einem verlorenen Ochsen. Da erschien ihm in einer wundersamen Vision die Jungfrau Maria und sprach: »Du sollst hier für mich eine Kirche errichten, damit ich gläubigen Menschen, die kommen, mir zu huldigen, Gnade erweisen kann.« Seit Jahrhunderten quälen sich seitdem nach den Wünschen der Jungfrau Anfang September arme Pilger die gewundenen Bergpfade nach Polsi hinauf.
    Der bedeutendste Schriftsteller Kalabriens, Corrado Alvaro, beschrieb die Wallfahrtsstätte, wie sie sich im ausgehenden 19 . Jahrhundert präsentiert haben mag, als sich 20 000  Männer und Frauen in Vorbereitung auf das Fest auf dem Kirchhof und in den umliegenden Wäldern tummelten. Einige hatten den gesamten Weg barfüßig zurückgelegt; andere trugen Dornenkronen. Die Männer tranken heftig und feuerten mit ihren Flinten in die Luft. Alle feierten mit gebratenem Ziegenfleisch, grölten alte Kirchenlieder und tanzten die ganze Nacht zur Musik von Sackpfeife und Tamburin.
    Am eigentlichen Festtag war die kleine Kirche vom Flehen der Pilger und vom Blöken und Muhen der Tiere erfüllt, die als Opfergaben mitgebracht worden waren. Hysterische Frauen kreischten Gelübde, während sie sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnten, um der Madonna Votivgaben zu Füßen zu legen: Messingschmuck, Kleidungsstücke oder schaurige, aus Wachs geformte Körperteile von Kindern. Wenn der Abend kam und die Jungfrau auf einer Sänfte um die Kirche getragen wurde, beteten die Pilger, weinten, schlugen sich auf die Brust und riefen dabei: »Viva Maria!«
    Das Fest der Madonna von Polsi hat eine besondere symbolische Bedeutung für die ’Ndrangheta. Bis zum heutigen Tag dient den Bossen der gesamten Provinz Reggio Calabria das Fest als Vorwand für ein Jahrestreffen. Im September 2009 kam angeblich der frisch gewählte »Chef des Verbrechens«, Domenico Oppedisano, nach Polsi, um sich im Amt bestätigen zu lassen. Höhere Positionen im

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