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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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die
Picciotteria
einfordern konnte, stand zerstört und rußgeschwärzt am Dorfeingang. Es war das Haus der Familie Zoccali. Nachdem Musolino vergeblich versucht hatte, es in die Luft zu sprengen, brannten die
picciotti
es kurzerhand nieder und überredeten dann den Gemeinderat, der Familie die Genehmigung zu verweigern, es wieder aufzubauen.
    Die Honoratioren in Santo Stefano machten keinerlei Anstalten, ihre Nähe zur
Picciotteria
geheimzuhalten. Als Anna, Musolinos Schwester, heiratete, waren der neue Bürgermeister und seine Angestellten, der gesamte Gemeinderat, die Ärzte, Schullehrer, Gemeindeaufseher und die Stadtkapelle zur Hochzeitsfeier geladen. Der Bürgermeister ergriff die Gelegenheit, um für Musolino ein Gnadengesuch an die Königin herumzureichen.
    Das Ergebnis von Mangiones Ermittlungen war ein Zweistufenplan zur Ergreifung Musolinos: Zunächst sollte sein Versorgungsnetz angegriffen werden; danach würde man auf die gesamte
Picciotteria
in Santo Stefano Jagd machen. Entsprechend kam es im Frühling und Sommer des Jahres 1901 zu mehreren Massenverhaftungen. Nachdem viele seiner Helfer hinter Schloss und Riegel saßen, tat Musolino sich zunehmend schwer, in heimatlicher Umgebung Unterschlupf zu finden.
    Am Nachmittag des 9 . Oktober 1901 entdeckten zwei Carabinieri unweit der Stadt Urbino – über 900  Kilometer von Santo Stefano entfernt – einen jungen Mann in Jagdjacke und mit Fahrradmütze, der sich verdächtig verhielt. Er flüchtete in einen Weinberg, als sie ihn anriefen, und stolperte über einen Draht. Er zückte einen Revolver, wurde jedoch überwältigt, ehe er abdrücken konnte. »Tötet mich«, sagte er, als man ihm die Handschellen anlegte. Dann versuchte er es mit Bestechung, doch vergeblich. Als man ihn durchsuchte, entdeckte man ein Messer bei ihm, Munition und eine Menge Amulette, darunter einen Beutel voller Weihrauch, ein Kruzifix, ein Herz-Jesu-Medaillon, ein Bildnis des heiligen Joseph und eines der Madonna von Polsi. Fünf Tage später wurde er als der Brigant Giuseppe Musolino identifiziert.
    Musolino wurde im anmutigen toskanischen Lucca vor Gericht gestellt, da man befürchtete, Geschworene aus Kalabrien könnten sich von dem Mythos beeindrucken lassen, der ihn umgab. Sein längst fälliges Erscheinen vor Gericht sollte einer der sensationellsten Prozesse der damaligen Zeit werden.
    Der nächste Schritt im Zweistufenplan der Regierung ging jedoch schief. Die Zeugen, auf die Mangione gebaut hatte, um Beweise über die
Picciotteria
in Santo Stefano zu sammeln, waren nämlich eingeschüchtert worden und zogen ihre Aussagen zurück. Der Fall erreichte nicht einmal den Gerichtssaal.
    Als sich im Frühjahr 1902 Berichterstatter aus dem In- und Ausland in Lucca einfanden, um dem mit Spannung erwarteten Musolino-Prozess beizuwohnen, erwies sich das Schauspiel vor ihren Augen als unentwegte Schmach, als rufschädigend für die italienische Justiz. Sobald nämlich die Staatsanwaltschaft darzulegen versuchte, dass Musolino in seinem Heimatort einer kriminellen Vereinigung angehörte, erhoben seine Anwälte lautstark Einspruch. War die Rechtssache gegen diese vermeintliche Sekte in Santo Stefano nicht bereits durchgefallen, ehe sie den Gerichtssaal erreicht hatte? Wo waren die Beweise? Der wahre Hintergrund der Musolino-Saga blieb somit im Dunkeln, während ein vielfacher Mörder reichlich Gelegenheit hatte, sich als der verfemte Held zu gerieren, zu dem ihn die Marionettentheater Süditaliens stilisiert hatten.
    Musolino hatte die Zeit seit seiner Gefangennahme im vorausgehenden Oktober genutzt, um seine Abenteuer, in Verse gefasst, niederzuschreiben. Außerdem ließ er seinen Körper durch positivistische Kriminologen akribisch genau vermessen. Gleichzeitig erreichten ihn zahllose Briefe und Ansichtskarten von – vorwiegend weiblichen – Bewunderern. Sie sandten ihm Liebesschwüre, Segensbildchen und Süßigkeiten, versprachen, für ihn zu beten, und baten ihn um Locken von seinem Haar. Der Richter in Lucca war so besorgt ob Musolinos Wirkung auf das Weibsvolk der Stadt, dass auf seine Veranlassung hin nur Männer der Anhörung beiwohnen durften. Doch die Flut der Verehrerbriefe wurde nach Prozessbeginn sogar noch größer. Unweit des Gerichtshofs zirkulierten rätselhafterweise signierte Postkartenporträts des »Königs des Aspromonte«. Von Journalisten in seiner Zelle befragt, erging sich Musolino in Schwärmereien über seine erotischen Abenteuer während der

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