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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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Flucht.
    Steckbrief für Giuseppe Musolino, den »König des Aspromonte«
    Der eigentliche Grund für die Mordserie des »Königs des Aspromonte«? Ein Diagramm, das die Schädelverletzung zeigt, die sich Musolino im Säuglingsalter durch einen herunterfallenden Blumentopf zuzog.
    Skizzen von Musolinos Kopf, im Gerichtssaal entstanden.
    Die Anwälte Musolinos bestritten zu keiner Zeit die Tatsache, dass er seit seiner Flucht aus dem Gefängnis etliche Morde und Mordversuche auf dem Kerbholz hatte. Ihre Verteidigung gründete vielmehr auf der Behauptung, dass er das Verbrechen, dessentwegen er überhaupt erst inhaftiert worden war, nicht begangen hatte: den Mordversuch an Vincenzo Zoccali. Seine blutigen Taten, so das Argument der Anwälte, seien mit der Verschwörung gegen ihn im Fall Zoccali zu erklären, vielleicht gar zu rechtfertigen.
    Ein französischer Richter, zu Besuch in Italien, war verständlicherweise erstaunt, dass dieses Argument für die Verteidigung in Betracht kam; es erschien ihm wie der Beweis für Italiens »moralische Rückständigkeit«. Musolino teilte seine Zweifel nicht. Als man ihn in den Zeugenstand rief, sagte er dem Gericht, er habe seinen berechtigten Rachefeldzug jetzt beendet und werde, falls man sich dazu entschließen könne, ihn freizulassen, nie mehr gegen das Gesetz verstoßen. Er sei der Abkömmling eines französischen Prinzen, behauptete er und verglich seine missliche Lage mit jener Jesu Christi.
    Hin und wieder jedoch beschmutzte Musolino das hehre Selbstbild vom edlen Räuber: zum Beispiel, indem er Vincenzo Zoccalis Mutter, die gegen ihn aussagte, wiederholt als Schlampe schmähte. Doch hinderte dies kaum jemanden im Saal daran, mit ihm zu sympathisieren. Einer der größten Dichter Italiens, ein sentimentaler Sozialist namens Giovanni Pascoli, lebte nicht weit von Lucca auf dem Lande und beobachtete den Prozess mit seinem üblichen Mitgefühl. »Armer Musolino!«, schrieb er einem Freund. »Am liebsten möchte ich ein Gedicht schreiben, um zu zeigen, dass jeder von uns einen Musolino in sich trägt.«
    Viele Kommentatoren des Prozesses argumentierten, das Problem, welches dem Fall Musolino innewohne, sei nicht etwa ein einzelner Brigant, sondern die Isolation der kalabrischen Gesellschaft insgesamt. Moderne Transportmittel wie die Eisenbahn brachten gewiss das Licht der Zivilisation in die primitive Dunkelheit des Aspromonte. Die sonnengegerbten bäuerlichen Zeugen, die des Falls wegen nach Lucca gekommen waren, boten ein Schauspiel, das diese Ansicht zu bestätigen schien. Die meisten von ihnen waren kalabrische Dialektsprecher, die ihre Aussagen mittels eines Dolmetschers machen mussten. Einmal erhob sich großes Gelächter, als sich der Dolmetscher, nachdem ein Zeuge zu sprechen begonnen hatte, an den Richter wandte und gestand, er verstehe kein Wort. Vermutlich war in ganz Italien nicht ein einziger Griko-Italienisch-Dolmetscher verfügbar.
    Positivistische Kriminologen wurden gebeten, dem Gericht die Ergebnisse ihrer akribischen Untersuchung der körperlichen und seelischen Eigenschaften Musolinos darzulegen. Er weise eine widersprüchliche Mischung von Symptomen auf, erklärten sie. Eine klare Ursache für seine kriminellen Neigungen scheine es nicht zu geben. Musolino, sagten sie, habe sich im Alter von sechs Jahren eine Schädelverletzung zugezogen, als ihm ein Blumentopf auf den Kopf gefallen sei. Der Unfall habe möglicherweise eine Epilepsie ausgelöst – ein eindeutig verbrecherischer Zug. Andererseits masturbiere er nur höchst selten und sei sehr intelligent. Rassisch gesehen, schlossen sie lahm, sei er in übertriebener Ausprägung der »kalabrische Durchschnittstyp«.
    Die rührendste Rede im Prozess hielt der Anwalt, der die Eltern Pietro Ritrovatos vertrat, des jungen Carabiniere, der den entsetzlichen Verletzungen erlegen war, die ihm Musolino am Morgen nach der Episode mit den drogendurchsetzten Makkaroni zugefügt hatte. Das alte Ehepaar hatte einen Zivilprozess gegen den »König des Aspromonte« angestrengt. Doch beide Eltern mussten im Zeugenstand immer wieder so heftig weinen, dass sie sich mehrmals zurückziehen mussten. Ihr Anwalt erklärte, er wolle nicht etwa Geld fordern, sondern »eines jungen Mannes gedenken, der in Erfüllung seiner Pflicht gestorben« sei. Zu diesem Zweck versuchte er die »Musolino-Legende«, wie er sie nannte, mittels einer wesentlichen Information zu zerstören, die der Prozess zu wenig berücksichtigt hatte: Musolino

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