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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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sei Mitglied einer kriminellen Vereinigung mit Namen
Picciotteria
.
    Das schmierigste Zeugnis legte der Bürgermeister des Ortes Santo Stefano ab – derselbe, der der Hochzeit von Musolinos Schwester beigewohnt und ein königliches Gnadengesuch herumgereicht hatte. Aurelio Romeo war ein feister Mann mit glattem schwarzen Bart, der in einer der beiden wichtigsten politischen Fraktionen in Reggio Calabria eine maßgebliche Rolle spielte. Vor Gericht mimte er moralische Entrüstung angesichts der Art und Weise, wie die Bewohner von Santo Stefano von gewalttätigen, unfähigen Polizisten behandelt worden waren. »Die
Picciotteria
ist eine Erfindung, eine Ausrede für die Schwäche der Polizei«, sagte er. Zum Charakter von Musolinos beiden Komplizen, die beschuldigt wurden, an seinem Vorgänger im Bürgermeisteramt einen Mordversuch begangen zu haben, sagte er, sie seien nur ehrliche, schwer arbeitende Männer.
    Der Ausgang des Verfahrens war dennoch unvermeidlich: Musolino wurde für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch ebenso unvermeidlich war, dass Italien sich eine wertvolle Gelegenheit hatte entgehen lassen, die Öffentlichkeit auf den akuten kriminellen Ausnahmezustand im südlichen Kalabrien aufmerksam zu machen. Die frühe ’Ndrangheta würde sich weiter in Dunkelheit und Chaos hüllen, ein kaum bekanntes Kuriosum in einer kaum bekannten Region.
    Musolino dagegen war bleibender Ruhm beschieden, selbst hinter Gittern. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wanderte der englische Schriftsteller Norman Douglas auf den Aspromonte und hörte von seinen bäuerlichen Bergführern eine Geschichte um die andere über die Großtaten des Briganten.
    »Nur Gott allein weiß, wie vielen armen Menschen er in ihrer Not geholfen hat. Und wenn er auf seinem Weg einem jungen Mädchen begegnete, so half er ihr die schwere Last tragen und begleitete sie nach Hause, bis vor ihres Vaters Haus. Ach ja, ihr hättet ihn sehen sollen, Herr! Er war jung, blond gelockt und hatte ein Gesicht wie eine Rose.«
    In Wahrheit war Musolinos Haar schwarz. Dies zumindest hatten die Kriminologen zweifelsfrei festgestellt.

5 MEDIENWIRKSAME BOSSE 1899 BIS 1915
    Bankiers und Ehrenmänner
    Dass Italien den Aufstieg der
Picciotteria
kaum bemerkte, lag nicht zuletzt daran, dass das Land weit größere Sorgen hatte. Ende der 1880 er Jahre platzte eine Bauspekulationsblase, woraufhin Kreditinstitute auf riesigen Schuldenbergen sitzenblieben. 1890 rutschte die Wirtschaft in eine Rezession, wodurch das Finanzwesen noch weiter unter Druck geriet. Mehrere Geldinstitute, darunter zwei der größten Italiens, machten nacheinander Bankrott. Eine weitere Bank, die Banca Romana, versuchte die Katastrophe abzuwenden, indem sie ihr eigenes Geld druckte und mit den Blüten Dutzende Politiker bestach. »Kredite« der Banca Romana ermöglichten es dem italienischen König, seinen ausschweifenden Lebensstil weiterzuführen. Der Premierminister war im November 1893 zum Rücktritt gezwungen, als im Parlament seine Verstrickung in den Skandal ruchbar wurde.
    Vielen kam es so vor, als stehe nicht nur das italienische Bankenwesen kurz vor dem Kollaps, sondern die Monarchie selbst, wenn nicht gar der gesamte Staat. Ein Politiker fühlte sich dazu berufen, die Nation zu retten: Francesco Crispi, ein altes Schlachtross der Linken, ein Sizilianer und 1860 einer der Helden in Garibaldis Zug der Tausend. Crispi bekam es auch mit einer unvorhergesehenen politischen Herausforderung zu tun: mit den Gewerkschaften, der Sozialistischen Partei und anderen Organisationen, die ihre Anhänger unter den Bauern und Arbeitern rekrutierten. Er reagierte mit Repressionen: In einigen ländlichen Gegenden verhängte er das Kriegsrecht, und 1894 verbot er die Sozialistische Partei. Weil er dringend militärischen Ruhm brauchte, um die schwache Glaubwürdigkeit des Staates zu stärken, startete Crispi in Ostafrika ein rücksichtsloses koloniales Abenteuer. Im März 1896 , bei der Schlacht von Adua, wurde die italienische Armee, die Crispi ausgesandt hatte, von einer zahlenmäßig weit überlegenen äthiopischen Streitmacht vernichtend geschlagen. Crispi trat zurück, nachdem die Nachricht aus Adua Rom erreicht hatte.
    Nach Crispi entspannte sich zwar die Lage, doch die Politik setzte ihren reaktionären Kurs fort. In den darauffolgenden Jahren würden konservative Politiker offen davon sprechen, das ohnehin langsame und zögerliche Vorrücken Italiens zur Demokratie einer brüsken

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