Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Kehrtwende zu unterziehen. Im Frühjahr 1898 verursachten gestiegene Lebensmittelpreise einen Aufruhr. Kanonenschüsse hallten durch die Straßen von Mailand, als Soldaten auf Demonstranten feuerten. Ein weiterer Premierminister begann daraufhin einen langen parlamentarischen Kampf, um ein Gesetz durchzudrücken, das die Freiheit der Presse und des politischen Lebens beschnitt.
Im Sommer des Jahres 1900 kehrte ein Anarchist aus der Toskana mit Namen Gaetano Bresci nach Italien zurück, nachdem er einige Jahre in Patterson, New Jersey, zugebracht hatte; er sann auf Rache für den Kanonenbeschuss von 1898 . Am 20 . Juli drückte er dem turbulentesten Jahrzehnt in Italiens kurzer Geschichte den passenden gewalttätigen Stempel auf, indem er sich nach Monza begab und den König ermordete.
Zu diesem Zeitpunkt schlitterte Italien freilich schon in ein ganz anderes Zeitalter. Ein verbessertes Bankensystem, einschließlich der neu gegründeten Banca d’Italia, half der Wirtschaft wieder auf die Beine. Im Nordwesten schritt die Industrialisierung schnell voran: In Turin begann FIAT 1899 mit der Herstellung von Automobilen; in Mailand machte sich 1901 Pirelli an die Produktion von Autoreifen. In den kommenden Jahren sollten sich die italienischen Städte mit Lärm und Licht füllen: Automobile, elektrische Straßenbahnen, Kaufhäuser, Kneipen, Kinos und Fußballstadien. In der Politik waren Reformen an der Tagesordnung. Mehr Menschen hatten Zugang zur Bildung und erlangten dadurch das Wahlrecht. Die Sozialistische Partei war zwar immer noch klein, aber doch stark genug, um über Zugeständnisse im Parlament zu verhandeln. 1913 fanden in Italien die ersten allgemeinen Wahlen statt, bei denen laut Gesetz alle erwachsenen Männer eine Stimme hatten.
Ein Zuwachs an Zeitungslesern war ein weiteres Zeichen für die neue Vitalität. Im Jahr 1900 , als Bresci den König erschoss, hatte der
Corriere della Sera
noch eine Auflage von 75 000 Exemplaren. 1913 waren es bereits 350 000 . Das Italien, das 1902 den Prozess gegen den »König des Aspromonte« verfolgte, durchlebte demnach gerade eine Medienrevolution. Alle drei Ehrenwerten Gesellschaften Italiens mussten daher ihre Methoden – Brutalität, Schaffung von Netzwerken und Desinformation – in einer weitaus demokratischeren Gesellschaft erproben. Jetzt war die öffentliche Meinung ausschlaggebend für politische Entscheidungen, die wiederum ausschlaggebend waren für die Schicksale der Verbrecher.
Die neapolitanische Camorra sollte der Herausforderung nicht standhalten.
Doch im Falle der sizilianischen Mafia war die Wirkung des neuen Medienzeitalters nicht größer als der leise Knall des Blitzlichtpulvers eines Fotografen: Es beleuchtete für einen Augenblick eine Grabeslandschaft der Korruption und Gewalt, um sie anschließend in noch tiefere Dunkelheit zu tauchen als zuvor.
Die sizilianischen Mafiadramen zu Beginn des 20 . Jahrhunderts entstanden allesamt aus dem einen unheilvollen Moment während der Bankenkrise der frühen 1890 er Jahre, aus einem Mord, der fast hundert Jahre lang das bekannteste Verbrechen der Mafia bleiben würde. Bekannt zum einen, weil das Opfer einer der maßgeblichen Bürger Siziliens war, auch weil die Mörder ungestraft davonkamen, vor allem jedoch, weil der daraus resultierende Skandal, bekannt als die Notarbartolo-Affäre, für kurze Zeit offenlegte, wie mächtig der Einfluss der Mafia auf die höchsten Kreise der sizilianischen Gesellschaft bereits war.
Marchese Emanuele Notarbartolo di San Giovanni hatte 1860 an der Seite Garibaldis gekämpft, obschon er seiner Veranlagung nach ganz und gar nicht der Gewalt zugeneigt war. In einer Zeit, in der Fragen der Ehre oft im Morgengrauen mit dem Degen geregelt wurden, hatte sich Notarbartolo nur ein einziges Mal an einem Duell beteiligt: Es hatte drei Stunden gedauert, da er sich lediglich verteidigt hatte. Er war ein fürsorglicher Familienmensch, der seiner Frau an jedem Tag ihres gemeinsamen Lebens kurze, zärtliche Notizen zukommen ließ. Notarbartolo war auch ein äußerst pflichtbewusster Beamter. Von 1873 bis 1876 , als Bürgermeister von Palermo, kämpfte er gegen die Korruption. 1876 wurde er zum Generaldirektor der Bank von Sizilien ernannt und machte sich unbeliebt, weil er für engere Kreditrahmen plädierte. Der strenge Ruf, den sich Notarbartolo bei der Bank von Sizilien einhandelte, sollte geradewegs zu seiner grausamen Ermordung führen.
Notarbartolos reine Weste fand ihren
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