Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
zum Star des Puppentheaters. Kinder spielten in den Gassen, sie wären Musolino. Wandernde Schauspieler verkleideten sich als Briganten, um von seinen Abenteuern zu singen, oder verkauften für ein paar Kupfermünzen schmuddelige Papierbögen, die mit Preisgedichten bedruckt waren. Die Obrigkeit verhaftete einige dieser Bänkelsänger, doch der Kult war nicht mehr aufzuhalten. Der »König des Aspromonte« profitierte persönlich davon. Musolino schickte einen Brief an eine überregionale Zeitung, in dem er sich dreist als Beschützer der einfachen Leute und als Rebell gegen die Obrigkeit aufspielte.
»Ich bin ein Arbeiter und eines Arbeiters Sohn. Ich mag die Menschen, die von früh bis spät auf den Feldern schwitzen, um die Reichtümer der Gesellschaft hervorzubringen. Ja, ich beneide sie, weil meine unglückselige Lage mich daran hindert, eigenhändig zuzupacken und das Meinige beizutragen.«
Der italienische Staat musste einsehen, dass er einen Propagandakrieg gegen die kriminellen Handwerker und Bauern des Aspromonte verlieren würde. Die gesamte Musolino-Affäre verwandelte sich für die Staatsgewalt zu einer PR -Katastrophe, wie wir es heute nennen würden. Am erschreckendsten war die Tatsache, dass sich nicht nur ungebildete Menschen von dem Mythos blenden ließen. Obschon vernünftige Meinungsmacher sämtlicher politischer Couleurs den Kult um Musolino als ein Symptom für Italiens Rückständigkeit verurteilten, verkauften sich Bücher und Pamphlete über ihn nach wie vor zu Tausenden. In Kalabrien wagte nur eine einzige Zeitung anzudeuten, dass der »König des Aspromonte« vielleicht wirklich versucht hatte, Vincenzo Zoccali zu töten, und somit schuldig war. In Neapel, wo der Mythos vom edlen Camorrista Hochkonjunktur hatte, berichtete der
Corriere di Napoli
kritiklos die Märchen von den maßgeblichen Großtaten des Briganten und war nahe daran, seinen Rachefeldzug zu rechtfertigen.
»Musolino schadet nur deshalb seinen Feinden, weil er eine Mission zu haben glaubt, die er zu Ende bringen muss.«
Zwischen dem Briganten und dem Gesetz gebe es auf beiden Seiten Richtig und Falsch – so das Argument. Entsprechend vertraten einige Kommentatoren in der Presse die Vorstellung, Musolino solle, der Gerechtigkeit halber, sicheres Geleit in die Vereinigten Staaten erhalten.
Endlich reagierten die Behörden auf die Information, dass Musolino durchaus kein einsamer Wolf war. Zu Beginn des Jahres 1901 wurde ein ehrgeiziger junger Polizist namens Vincenzo Mangione nach Santo Stefano geschickt, um dort eine radikalere Strategie anzuwenden, als den Banditen blindlings um den Berg zu jagen und Informanten (vor allem
picciotti
) zu bestechen, damit sie ihn verrieten.
Mangione trug einige äußerst enthüllende Details über die
Picciotteria
in Musolinos Heimatdorf zusammen. Seinen Quellen zufolge – hauptsächlich unzuverlässige
picciotti
– sei sie eine »durch und durch kriminelle Institution«, mit eigenem Finanzwesen und eigener Rechtsprechung. Insgesamt lebten in Santo Stefano 166 Anhänger der Mafia. Sie war zu Beginn der 1890 er Jahre von Musolinos Vater und seinem Onkel gegründet worden, die jetzt beide im »Obersten Rat« der Organisation saßen. Die Beweise, die Mangione zusammengetragen hatte, sowie die Tatsache, dass Musolino in der gesamten Region über ein verlässliches Netzwerk von Unterstützern verfügte, bestärken die Vermutung, dass die ’Ndrangheta schon immer eine zusammenhängende Organisation war und kein Sammelsurium aus Dorfbanden.
Musolinos mögliche Motive traten aus Mangiones Forschung mit neuer Klarheit hervor. Der Bandit war wie sein Vater Mitglied der Bande. Daher muss sein Handeln stets im Zusammenhang mit seiner Rolle innerhalb der kriminellen Vereinigung betrachtet werden. So wurde beispielsweise der Angriff auf Zoccalis Leben, der den Musolino-Mythos in Gang gesetzt hatte, von der
Picciotteria
als Bestrafung in Auftrag gegeben, weil Zoccali versucht hatte, sich vor seinen Pflichten als
picciotto
zu drücken. Musolino war demnach ein umherstreifender Auftragskiller für die gesamte Sekte.
Am enthüllendsten war Mangiones Erkenntnis über die Art und Weise, wie die
picciotti
sich Gefälligkeiten von »achtbaren Leuten, Persönlichkeiten aus der Politik, von Anwälten, Ärzten und Grundbesitzern« verschafften. Die bedeutendsten Gefälligkeiten waren Empfehlungsschreiben und falsche Zeugenaussagen. Ein anschauliches Beispiel für die Gefälligkeiten, die
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