Die Frau im Tal
1. Teil
Die Sekunden davor
»Versuch dich noch mal zu erinnern.«
»Erinnern woran?«
»Was hast du gefühlt.«
»Ich war im Wasser. Die Strömung riß mich mit, und ich ruderte mit den Armen. Sie war viel stärker, als ich gedacht hatte.«
»Hat es dich erschreckt?«
»Ja, obwohl ich vorbereitet war. Ich hatte auf einem Stein gesessen und stundenlang geraucht und nachgedacht.«
»Du hast das Für und Wider erwogen?«
»Ja.«
»Und dann hast du dich entschlossen?«
»Ich wußte, daß es darauf ankam, mich weich und willenlos zu machen, mich zu konzentrieren, der Aufprall auf den Steinen würde ohnehin hart genug sein.«
»Du warst dir sicher, daß du ertrinken würdest?«
»Ich dachte, daß ich mich vielleicht an den scharfkantigen Steinen tödlich verletze. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß das Wasser so kalt war. Die Überraschung dauerte nur einen Augenblick. Der Wille war in dem Moment stärker als die Angst. Ich wollte dasselbe fühlen, was Marianne gefühlt haben mußte. Daß die Entscheidung gefallen war, daß sie die Kontrolle hatte, daß sie durchführen konnte, was sie sich vorgenommen hatte.«
»Dachtest du an deine Mutter?«
»Nicht in dem Moment. Das ist so lange her.«
»Aber es war der gleiche Fluß?«
»Ja. Ein beinahe vertrautes Gefühl. Deshalb wollte ich nicht aufgeben. Ich wollte es hinter mich bringen. Ich erinnere mich, daß ich mit der Strömung dahinschoß und mich darauf vorbereitete, auf den Felsblock zu prallen, der in all den Jahren dagelegen und nur auf mich gewartet hatte.«
»Wirklich?«
»Ein spitzer Stein verletzte mich, aber nicht ernsthaft. Da konzentrierte ich mich noch mehr. Mein einziger Gedanke war, es zu schaffen, es mußte mir gelingen, so wie es Marianne gelungen war, wie es Anja gelungen war, auch wenn Marianne nie zugab, daß Anja Selbstmord begangen hatte.«
»Wir wollen jetzt nicht über Anja reden.«
»Das kalte Wasser lähmte die Muskeln und machte mich gefühllos. Aber ich hatte keine Angst. Nicht in dem Moment. Ich stellte mir vor, daß ich mit allem, was ich tat, ihnen näher kommen würde.«
»Deshalb wähltest du den Fluß?«
»Ich weiß nicht, warum ich den Fluß wählte. Ist das wichtig? Hast du eine Kartei, um die Menschen in Gruppen einzuteilen? Die, die sich aufhängen? Die, die sich die Pulsadern aufschneiden? Die, die aus dem Fenster springen?«
»Verzeihung. Ich versuche mich einzufühlen.«
»In den Strudeln weiter flußabwärts ging es plötzlich schneller.«
»Bekamst du Angst?«
»Nein, ich wurde wütend. Gleichzeitig war es plötzlich ernst, wie vor einem großen Konzert. Die Angst, zu versagen, verletzt zu werden, vielleicht verkrüppelt. Ich war feige.«
»Nenne es, wie du willst.«
»Ich versuchte, mit dem Kopf voraus zu schwimmen, trieb aber quer dahin und knallte gegen einen Stein, daß mir die Luft wegblieb. Ich öffnete den Mund und schnappte nach Luft … Aber da war nur Wasser.«
»Darauf warst du nicht gefaßt?«
»Nein, nicht darauf, keine Luft zu bekommen, sondern nur Wasser. Ich konnte nicht einmal husten. Ein Gefühl, als würde der Kopf zu brennen anfangen.«
»Aber du hattest nach wie vor den festen Willen, das zu tun, was du dir vorgenommen hattest?«
»Nein. Jetzt hatte ich plötzlich das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Alles wurde ernster, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich erinnere mich an das Gefühl, zu sinken. Gleichzeitig füllten sich die Gehörgänge mit einem kreischenden Laut.«
»Du bereutest dein Vorhaben?«
»Es war, als würde jemand eine Stahlplatte durch mein Gehirn ziehen. Da begriff ich, daß mich nur Sekunden vom Tod trennten.«
»Wie fühltest du dich da?«
»Einsam. Meine Augen waren weit geöffnet, und ich starrte leer ins Wasser.«
»Du erkanntest, daß dein Ende nahe war?«
»Ja. Das machte mich panisch. Noch nie hatte ich mich so lebendig gefühlt.«
»Was hast du da gemacht?«
»Ich konzentrierte mich darauf, bewußtlos zu werden. Ich sank weiter, obwohl ich das nicht wollte. Da merkte ich zum erstenmal ein Sausen. Ein großes, unheimliches Geräusch, das den Laut der Stahlplatten übertönte. Auf einmal wurde alles sehr langsam. Als würden sowohl die Gedanken als auch die Gefühle aufhören.«
»Und dann?«
»Die Welt verstummte. Sie verschwand über mir. Was blieb, war eine fürchterliche, ohrenbetäubende Ruhe.«
»Du warst im Schock.«
»War ich das? Ich erinnere mich nur, daß ich den Grund des Flusses erreichte, daß ich mich in etwas befand, das
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