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Onkel Robinson

Onkel Robinson

Titel: Onkel Robinson Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jule Verne
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Doch war er nur ein einfacher Matrose und kein Offizier. Seine Herkunft war noch leichter zu bestimmen, denn Angelsachse war er bestimmt nicht. Es kennzeichneten ihn weder die erstarrten Züge noch die Steifheit, die diesem Menschenschlag zu eigen sind. Man gewahrte bei ihm eine gewisse natürliche Anmut und nicht die etwas lümmelhafte Ungeniertheit, die auf einen Yankee aus Neuengland schließen ließe. Wenn dieser Mann nicht Kanadier war, also ein Nachfahre der unerschrockenen Pioniere, bei denen noch der gallische Einschlag auszumachen ist, dann mußte er Franzose sein, ein etwas amerikanisierter zwar, aber eben dennoch ein Franzose, einer jener gewandten, kühnen, gutmütigen, dienstfertigen, zu allem bereiten, nie um einen Ausweg verlegenen, zuversichtlichen und furchtlosen Burschen, wie sie in französischen Landen häufig anzutreffen sind.
    Der Seemann saß im hinteren Teil des Bootes. Er ließ weder das Meer noch das Segel aus dem Auge. Beide überwachte er gleichzeitig: das Segel, wenn eine Falte andeutete, daß es zu sehr im Wind lag, und das Meer, wenn es zuweilen galt, die Fahrtrichtung leicht zu ändern, um einer Woge auszuweichen.
    Hin und wieder sagte er ein paar Worte oder vielmehr Ermahnungen, und seine Aussprache war dann von einem Akzent gekennzeichnet, wie man ihn niemals aus der Kehle eines Angelsachsen vernommen hätte.
    »Keine Angst, meine Kinder«, sprach er. »Die Lage ist zwar nicht besonders rosig, aber sie könnte schlimmer sein. Machen Sie sich also keine Sorgen und ziehen Sie den Kopf ein, denn gleich wenden wir.«
    Dann schickte der brave Seemann sein Boot in den Wind. Das Segel rauschte über die gesenkten Köpfe, und das nunmehr auf die andere Seite geneigte Boot näherte sich allmählich der Küste.
    Im Heck saß neben dem kräftigen Steuermann eine sechsunddreißigjährige Frau, die das Gesicht in ihrem Umschlagtuch verbarg. Die Frau weinte, versuchte jedoch, ihre Tränen vor den um sie gescharten Kindern zu verheimlichen, um ihnen nicht jegliche Hoffnung zu rauben.
    Sie war die Mutter der vier Kinder, die sich in dem Boot befanden. Das älteste davon war siebzehn Jahre alt. Es war ein gut gebauter Junge, der sich zu einem kräftigen Mann zu entwickeln versprach. Die dunklen Haare und das vom Seewind gebräunte Gesicht standen ihm gut. An seinen geröteten Augen waren noch ein paar Tränen; aber geweint hatte er wohl nicht nur aus Kummer, sondern auch vor Wut. Er stand im vorderen Bootsteil neben dem Mast und sah zu dem noch weit entfernten Land hinüber. Manchmal drehte er sich um und sandte lebhafte, zugleich schmerzerfüllte und verärgerte Blicke gegen den im Westen sich wölbenden Horizont. Dann erbleichte er jedesmal und konnte nur mühsam eine zornige Geste unterdrücken. Wenn er schließlich wieder zu dem Mann am Ruder hinuntersah, nickte dieser ihm aufmunternd zu.
    Der jüngere Bruder des Jungen war kaum fünfzehn Jahre alt. Auf seinem dicken Kopf thronten rötliche Haare. Er war unruhig, zappelig, ungeduldig und stand in einem fort auf und setzte sich wieder hin. Das Boot fuhr ihm nicht schnell genug, und das Land rückte nicht schnell genug näher. Er hätte am liebsten sofort seinen Fuß auf die Küste gesetzt, selbst wenn es ihn im nächsten Augenblick schon wieder woandershin gezogen hätte. Sobald er aber wieder zu seiner Mutter sah und die Seufzer hörte, die der Brust dieser armen Frau entfuhren, eilte er zu ihr, umarmte sie, bedachte sie mit innigen Küssen, und die Unglückliche drückte ihn ans Herz und murmelte: »Armes Kind! Arme Kinder!«
    Wenn sie zu dem am Steuerruder sitzenden Seemann blickte, versäumte dieser es nie, ihr mit der Hand ein Zeichen zu geben, das ganz sicher bedeutete: »Es ist doch alles in Ordnung, Madame, wir ziehen uns schon aus der Affäre!«
    Im Südwesten jedoch sah der Mann über dem Horizont dicke Wolken aufziehen, die für seine Reisegefährtin und ihre Kinder nichts Gutes ahnen ließen. Der Wind drohte aufzufrischen, und eine zu starke Brise konnte dem decklosen, leichten Boot zum Verhängnis werden. Diese Sorge aber behielt der Matrose für sich und ließ sich von den Befürchtungen, die ihm zu schaffen machten, nichts anmerken.
    Die beiden anderen Kinder waren ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen. Der kleine Junge, ein achtjähriger Blondschopf mit vor Müdigkeit blassen Lippen, hatte die blauen Augen halb geschlossen, und seine Wangen, die sonst wohl frisch und rosig aussehen mußten, waren nun vom Weinen welk und fahl.

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