Onkel Toms Hütte
Grundsätzen der Philosophie hast du keinen blassen Schimmer.«
Andy schlug zerknirscht die Augen nieder. Das schwierige Wort ›Philosophie‹ hatte die Lage geklärt. Die jüngeren Zuhörer blickten bewundernd auf Sam, der nun fortfuhr:
»Es handelt sich um mein Gewissen, Andy. Als ich Lizzy zurückholen wollte, dachte ich, der gnädige Herr verlange es. Als ich merkte, die gnädige Frau wollte das Gegenteil, da war es mein besseres Gewissen – man kommt immer besser weg, wenn man sich auf ihre Seite schlägt –, da siehst du, daß ich immer getreu war, nach jeder Seite, und meinem Gewissen folgte und den Grundsätzen gehorchte. Ja, den Grundsätzen«, sagte Sam, einen Hühnerhals begeistert beiseite schiebend, »wozu Grundsätze, wenn wir ihnen nicht treu sind? Da, Andy, knabbere den Knochen ab, es ist noch eine Menge dran.«
Sams Zuhörerschaft sperrte staunend den Mund auf. Schon deshalb mußte er fortfahren:
»Die Sache mit der Treue, Mitbürger«, sagte Sam mit einem Ausdruck, als begebe er sich jetzt in ein dichtes Gebüsch. »Die Treue ist eine Sache, die die wenigsten verstehen. Seht ihr, wenn einer heute die eine Sache und morgen die andere vertritt, dann erkennen die Leute darin keine Treue – gib mir das Stück Maiskuchen, Andy. Aber betrachten wir es einmal genauer. Ich hoffe, meine Damen und Herren, sie erlauben mir einen billigen Vergleich. Hier, ich will auf den Heuhaufen hinauf. Da lege ich meine Leiter auf der einen Seite an. Das geht aber nicht. Da bestehe ich natürlich nicht darauf, sondern setze meine Leiter auf die entgegengesetzte Seite, bin ich dann nicht treu? Ich beharre dabei, daß ich hinauf will, ganz gleich, von welcher Seite aus, versteht ihr das alle?«
»Gott weiß, sonst warst du nie beharrlich«, murmelte Tante Chloe, die langsam müde wurde. Die Heiterkeit des Abends erschien ihr, wie die Heilige Schrift es nennt, ›wie Essig auf Schwefel‹.
»Ja, in der Tat«, rief Sam und stand auf, um seine Rede effektvoll zu schließen, er war bis obenhin satt von Ruhm und Pfannenschmaus. »Ja, Mitbürger und alle Vertreter des schönen Geschlechtes, ich habe Grundsätze. Ich bin stolz darauf. Sie sind ein Zeichen unserer Zeit. Aller Zeiten. Ich habe Grundsätze, und ich hatte sie. Grundsätze sind meine Leidenschaft, es kümmert mich nicht, wenn sie mich bei lebendigem Leib verbrennen. Ich würde freiwillig zum Scheiterhaufen treten und bekennen: ich komme, um meinen letzten Blutstropfen hinzugeben für meine Grundsätze, für mein Vaterland, für das Allgemeinwohl.«
»Na«, sagte Tante Chloe, »der beste Grundsatz wäre jetzt, daß du zu Bett gingst und die anderen nicht bis in den Morgen hinein auf den Beinen hältst. Und ihr Bande verschwindet, sonst knallt's.«
»Nigger, alle miteinander«, sagte Sam, würdevoll seinen Palmblatthut schwingend, »ich entlasse euch mit meinem Segen. Geht zu Bett und seid brav.«
Damit zerstreute sich die Versammlung.
9. Kapitel
Worin es sich erweist, daß ein Genarrter auch nur ein Mensch ist
Der warme Schein eines hellen Feuers fiel auf Läufer und Teppich eines behaglichen Wohnzimmers und erglänzte auf den Teetassen und der blank polierten Teekanne. Senator Bird zog erleichtert die schweren Stiefel aus, ehe er in die neuen schönen Hausschuhe fuhr, die seine Frau ihm, während er in Geschäften unterwegs war, heimlich gearbeitet hatte. Mrs. Bird, ein wahres Bild der Freude, war dabei, den Teetisch zu decken, wobei sie wiederholt eine Schar munterer Kinder ermahnte, die, unnütz und übermütig umhertollend, jene ausgelassenen Streiche ausheckten, die seit Zeiten der Sintflut immer wieder alle Mütter in gelinde Verzweiflung stürzen.
»Tom, laß die Türklinke los, komm, benimm dich! Mary, Mary, zieh die Katze nicht am Schwanz – arme Mietz! Jim, runter vom Tisch, nein, das gibt es nicht! – Du weißt nicht, mein Lieber, wie froh wir sind, daß du heute abend einmal zu Hause bist«, sagte sie schließlich, als sie einen Augenblick Zeit fand, mit ihrem Mann zu sprechen.
»Ja, ja, ich dachte, ich komme schnell einmal vorbei, bleibe die Nacht hier und genieße einmal meinen häuslichen Frieden. Ich bin todmüde, und mein Kopf zerspringt.«
Mrs. Bird warf einen Blick auf die Kampferflasche, die in dem halboffenen Schränkchen stand und überlegte, ob sie sie wohl holen sollte. Aber ihr Mann kam ihr zuvor.
»Nein, nein, Mary, keine Medizin. Eine Tasse guten, starken Tee und ein tüchtiges Abendbrot ist alles, was ich möchte. Es ist
Weitere Kostenlose Bücher