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Shutter Island

Titel: Shutter Island Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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AUS DEN AUFZEICHNUNGEN VON DR. LESTER SHEEHAN
    3. Mai 1993
    SEIT VIELEN JAHREN habe ich die Insel nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war es vom Boot eines Freundes aus, das sich auf das offene Meer hinauswagte. Da lag sie in der Ferne hinter dem inneren Ring von Inseln, verschleiert vom sommerlichen Dunst, ein achtlos hingeschmierter Farbfleck am Horizont.
    Es ist über zwanzig Jahre her, dass ich zum letzten Mal einen Fuß auf die Insel gesetzt habe, obwohl Emily sagt (mal im Scherz, mal nicht), sie würde bezweifeln, dass ich die Insel je verlassen hätte. Einmal meinte sie, die Zeit sei für mich lediglich eine Sammlung von Lesezeichen, mit deren Hilfe ich kreuz und quer durch das Buch meines Lebens blätterte und immer wieder zu den Ereignissen zurückkehrte, durch die ich nach Meinung meiner scharfsichtigeren Kollegen die klassischen Charakterzüge eines Melancholikers bekommen habe.
    Emily könnte Recht haben. Sie hat so oft Recht.
    Bald werde ich auch sie verlieren. Ein paar Monate noch, hat Dr. Axelrod am Donnerstag gesagt. Machen Sie die Reise, von der Sie schon immer geträumt haben, hat er uns geraten. Nach Florenz oder Rom, nach Venedig im Frühling. Weil Sie mir auch nicht besonders gut aussehen, Lester, hat er hinzugefügt.
    Kann wohl sein. In letzter Zeit verlege ich zu oft irgendwelche Dinge, vor allem meine Brille. Und die Autoschlüssel. Ich betrete ein Geschäft und weiß nicht mehr, was ich dort wollte. Ich komme aus dem Theater und kann mich nicht erinnern, was ich gerade gesehen habe. Wenn die Zeit für mich wirklich nur eine Sammlung von Lesezeichen in einem Buch ist, dann kommt es mir vor, als hätte jemand die Eselsohren glatt gestrichen und das Buch so lange geschüttelt, bis alle vergilbten Zettel, abgerissenen Streichholzheftchen und flach gepressten Kaffeerührstäbe herausgefallen sind.
    Deshalb möchte ich das alles aufschreiben. Ich will nichts verändern, mich nicht in einem besseren Licht darstellen. Nein, nein. Das würde er niemals gutheißen. Auf seine Weise hasste er Lügen mehr als jeder andere. Ich möchte lediglich das Geschehene bewahren, möchte es von seinem jetzigen Archiv (das tatsächlich langsam feucht wird und leckt) auf diese Seiten übertragen.
    Ashecliffe Hospital lag im Nordwesten der Insel. Es wirkte einladend, könnte man hinzufügen. Das Gebäude hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Klinik für kriminelle Geisteskranke und schon gar nicht mit einer Militärkaserne, die es vorher gewesen war. Die meisten von uns erinnerte es, ehrlich gesagt, an ein Internat. Direkt vor dem Komplex wohnte der Anstaltsleiter in einem viktorianischen Gebäude mit Mansardendach. Als Quartier unseres ärztlichen Direktors diente ein wunderschönes düsteres Tudorschlösschen, das einst den Kommandanten der Unionsarmee der nördlichen Ostküste beherbergt hatte. Die Unterkünfte des Personals befanden sich innerhalb der Mauern – altmodische holzverschalte Häuschen für die Klinikärzte, und je ein flaches Wohnheim aus Leichtbeton für die Pfleger, die Wärter und die Krankenschwestern. Im Hof wuchs Rasen, außerdem in Form geschnittene Hecken, große, Schatten spendende Eichen, Waldkiefern, gestutzte Ahorne und Apfelbäume, deren Früchte im Spätherbst auf die Mauer oder ins Gras fielen. In der Mitte der Anlage standen zu beiden Seiten des Klinikgebäudes, einem Bau aus grauschwarzen Quadern und hübschem Granit, zwei Kolonialhäuser aus rotem Backstein. Jenseits der Mauern waren die Klippen, das Watt und ein lang gezogenes Tal, in dem nach der Amerikanischen Revolution eine Kolchose entstanden und wieder verfallen war. Die Bäume, die jene Bauern gepflanzt hatten, standen noch immer dort – Pfirsich- und Birnenbäume und die Schwarze Apfelbeere –, trugen indes keine Früchte mehr, und oft heulten die Nachtwinde durch das Tal und schrien wie Katzen.
    Und dann natürlich die Festung, die es schon gegeben hatte, bevor die ersten Mitarbeiter ihren Fuß auf die Insel setzten. Sie erhebt sich unverändert über den Klippen im Süden. Dahinter der Leuchtturm, den schon vor dem Bürgerkrieg das Licht von Boston Light überflüssig gemacht hatte.
    Vom Wasser aus war die Insel nicht sonderlich beeindruckend. Man muss sie sich so vorstellen, wie Teddy Daniels sie an jenem ruhigen Morgen im September 1954 sah: ein überwucherter Fleck im Außenhafengebiet von Boston. Kaum eine richtige Insel, mochte man denken, höchstens ein Versuch. Wozu die wohl gut ist, mag Teddy gedacht

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