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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Wolframs, das er herstellte, und seine Feuerfestigkeit, seine enorme chemische Stabilität. Er liebte den Umgang mit ihm - mit dem Draht, dem Pulver, aber vor allem mit den massiven kleinen Stangen und Barren. Er streichelte sie, wog sie (zärtlich, wie mir schien) in der Hand. «Fühl nur, Oliver», pflegte er zu sagen und hielt mir einen Barren hin. «Nichts auf der Welt fühlt sich an wie gesintertes Wolfram.» Dann schlug er leicht auf die kleinen Stangen, und sie gaben einen dunklen Ton von sich. «Der Klang von Wolfram», sagte Onkel Dave, «unvergleichlich.» Ich wusste nicht, ob das stimmte, zog es jedoch nie in Zweifel.
    Als der Jüngste von beinahe der Jüngsten (ich war das letzte von vier Kindern und meine Mutter das sechzehnte von achtzehn) wurde ich fast hundert Jahre nach meinem Großvater mütterlicherseits geboren und habe ihn nicht mehr gekannt. Er wurde 1837 als Mordechai Fredkin in einem kleinen russischen Dorf geboren. Als jungem Mann gelang es ihm, sich dem Dienst in der Kosakenarmee zu entziehen Er floh aus Russland mit dem Pass eines Toten namens Landau, da war er gerade sechzehn. Als Marcus Landau gelangte er nach Paris und von dort nach Frankfurt, wo er heiratete (eine Frau, die ebenfalls sechzehn war). Zwei Jahre später, 1855, zogen sie mit ihrem ersten Kind nach England.
    Nach allem, was über ihn berichtet wird, fühlte sich der Vater meiner Mutter zu materiellen und geistigen Dingen gleichermaßen hingezogen. Von Beruf war er Schuhmacher, Schochet (Schächter) und später Lebensmittelhändler, doch zugleich hebräischer Gelehrter, Mystiker, Amateurmathematiker und Erfinder. Er hatte einen weit gespannten geistigen Horizont: Von 1888 bis 1891 gab er in seinem Keller die Zeitung Jewish Standard heraus; er interessierte sich für das neue Gebiet der Luftfahrt und korrespondierte mit den Gebrüdern Wright, die ihm einen Besuch abstatteten, als sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts nach London kamen (einige meiner Onkel erinnern sich noch daran). Wie meine Tanten und Onkel mir erzählten, hatte er eine Leidenschaft für komplizierte arithmetische Aufgaben, die er im Kopf löste, während er in der Badewanne lag. Vor allem aber beschäftigte ihn die Erfindung von Lampen - Sicherheitslampen für Bergwerke, Kutschlampen, Straßenlaternen - in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat er viele einschlägige Patente angemeldet.
    Als Universalgelehrter und Autodidakt hegte Großvater ein leidenschaftliches Interesse für die Erziehung - vor allem die naturwissenschaftliche Bildung - aller seiner Kinder, seiner neun Töchter nicht weniger als seiner neun Söhne. Vielleicht lag es daran oder an seiner eigenen Begeisterung dafür, jedenfalls entdeckten sieben seiner Söhne gleich ihm ihre Liebe für die Mathematik und Physik. Seine Töchter hingegen wandten sich eher den Humanwissenschaften zu - der Biologie, Medizin, Pädagogik und Soziologie. Zwei von ihnen gründeten Schulen. Zwei andere wurden Lehrerinnen. Meine Mutter konnte sich zunächst nicht zwischen der Physik und den Humanwissenschaften entscheiden: Als Mädchen fühlte sie sich besonders zur Chemie hingezogen (ihr älterer Bruder Mick hatte gerade seine berufliche Laufbahn als Chemiker begonnen), sie wurde dann jedoch Anatomin und Chirurgin. Ihr Interesse und ihre Vorliebe für die Physik verlor sie nie - den starken Wunsch, unter die Oberfläche der Dinge zu gelangen, zu erklären. So begegnete sie den tausendundeins Fragen, die ich als Kind stellte, selten mit ungeduldigen oder abwehrenden Antworten, sondern mit eingehenden Erklärungen, die mich faszinierten (wenn sie auch oft meinen Horizont überstiegen). So wurde ich von früh an zum Nachfragen und Forschen ermutigt.
    Dank der vielen Tanten und Onkel (von Vaters Seite kamen noch ein paar mehr dazu) zählten meine Cousins und Cousinen fast an die hundert; und da die Familie größtenteils in London ansässig war (wenn es auch verstreute amerikanische, kontinentale und südafrikanische Ableger gab), trafen wir uns häufig auf tribalistisch anmutenden Familienfesten. Dieses Gefühl für die erweiterte Familie war mir seit frühester Kindheit vertraut und lieb und verband sich mit dem Empfinden, es sei unsere Aufgabe - die Familienaufgabe -, Fragen zu stellen, «Naturwissenschaftler» zu sein, so wie wir Juden oder Engländer waren. Ich gehörte zu den Jüngsten unter meinen Vettern und Cousinen in Südafrika hatte ich welche, die fünfundvierzig Jahre älter waren als ich -, und

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