Onkel Wolfram - Erinnerungen
Buch
«Wolfram» heißt der chemische Grundstoff, das man unter anderem zur Herstellung von Glühfäden braucht, und Onkel Wolfram - englisch «Uncle Tungsten» - nannte Oliver Sacks als Kind seinen Lieblingsonkel Dave. Denn dieser betrieb im Londoner Stadtteil Farringdon eine Glühbirnenfabrik, und die Besuche bei Onkel Wolfram in seiner Firma Tungstalite wurden zu prägenden Erlebnissen für den kleinen Oliver. Er war sechs Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, und zwölf, als die Völkerschlacht endete - aber stärker als alle Kriegsereignisse beeindruckten ihn seine Erfahrungen mit Phänomenen der Natur und Technik.
Schon früh entwickelte er eine tiefe Leidenschaft für Metalle und Steine, für Licht und seine rätselhafte Zusammensetzung, für naturwissenschaftliche Systeme und chemische Prozesse. Als Jugendlicher richtete er sich ein eigenes kleines Laboratorium ein, in dem er - oft zusammen mit seinen Brüdern Marcus und David - herumexperimentierte, und er träumte davon, Chemiker zu werden. Die Begeisterung für chemische Elemente und Substanzen und für die wundersamen, nicht immer ungefährlichen Effekte, die man durch ihre Verbindung erzielen kann, hat sich Oliver Sacks bis heute erhalten. Als Erwachsener sorgte er auf andere Weise für Aufsehen: Mit seinen unkonventionellen Fallgeschichten hat der Neurologe und Psychiater Oliver Sacks Millionen Leser in aller Welt gefunden. Seine Bücher werben höchst einfühlsam für mehr Verständnis und Toleranz gegenüber Menschen, die von der sozialen Norm abweichen. Jetzt erinnert sich Oliver Sacks an seine Kindheit und Jugend, und diese Reise in die eigene Vergangenheit wird seine Leser ebenso überraschen, wie es die früheren Bücher dieses Autors taten: Der berühmte Seelenforscher erweist sich als kenntnisreicher Naturge-lehrter, der mit seiner Autobiographie zugleich einführt in die Gedankenwelten der großen Chemiker und Physiker unserer Zeit.
Autor
OLIVER SACKS geboren 1933 in London. Nach einem Medizin-Studium in Oxford und neurophysiologischen Forschungen übersiedelte er in die USA, wo er als Neurologe an verschiedenen Kliniken gearbeitet hat. Derzeit ist Sacks Professor für Klinische Neurologie am Albert Einstein College of Medicine in New York.
KAPITEL EINS
ONKEL WOLFRAM
Viele meiner Kindheitserinnerungen betreffen Metalle: Von Anfang an schienen sie einen besonderen Zauber auf mich auszuüben. Von der Uneinheitlichkeit der Welt hoben sie sich auffällig ab mit ihrem Glanz, ihrem Schimmer, ihrem silbrigen Schein, ihrer Glätte und ihrem Gewicht. Sie waren kühl, wenn man sie berührte, und gaben Töne von sich, wenn man sie anschlug.
Ich liebte die gelbe Farbe, die Schwere des Goldes. Oft zog meine Mutter den Ehering vom Finger und ließ mich eine Zeit lang damit spielen, während sie mir berichtete, dass er unantastbar, gegen jedes Anlaufen gefeit sei. «Sieh nur, wie schwer er ist», sagte sie dann. «Noch schwerer als Blei.» Ich kannte Blei, denn ich hatte mit dem schweren, weichen Stück Rohrleitung gespielt, das der Klempner einmal zurückgelassen hatte. Auch Gold sei weich, sagte meine Mutter, deshalb werde es gewöhnlich mit anderem Metall gemischt, um es härter zu machen.
Wie beim Kupfer - das mischte man mit Zinn, um Bronze herzustellen. Bronze! Schon allein das Wort war für mich wie ein Fanfarenstoß, der zur Schlacht aufrief, wo Bronze kühn auf Bronze prallte, Bronzespeere auf Bronzeschilde, den großen Schild des Achill. Man könne Kupfer aber auch mit Zink legieren, sagte meine Mutter, das ergebe Messing. Wir alle - meine Mutter, meine Brüder und ich - hatten unsere eigenen Messingmenora für Chanukka. (Mein Vater hatte einen silbernen Leuchter.)
Ich kannte Kupfer, die glänzende rötliche Färbung des großen Kupferkessels in unserer Küche - er wurde nur einmal im Jahr heruntergenommen, wenn die Quitten und Holzäpfel im Garten reif waren und meine Mutter sie zu Gelee einkochte.
Ich kannte Zink: Die stumpfe, leicht bläuliche Vogeltränke im Garten war aus Zink; und Zinn, von der schweren Zinnfolie, in die die Sandwiches fürs Picknick eingewickelt wurden. Meine Mutter zeigte mir, dass Zinn oder Zink ein besonderes «Geschrei» ausstoßen, wenn man sie biegt. «Das liegt an der Verformung der Kristallstruktur», sagte sie und vergaß, dass ich fünf war und die Erklärung noch nicht verstehen konnte. Trotzdem faszinierten mich ihre Worte und weckten den Wunsch, mehr zu wissen.
Im Garten gab es eine riesige
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