Onkel Wolfram - Erinnerungen
einige dieser Cousins waren bereits als Naturwissenschaftler oder Mathematiker tätig; andere, nur wenig älter als ich, zeigten sich bereits für die Wissenschaft entflammt. Einer meiner Cousins arbeitete als junger Physiklehrer, drei andere lehrten Chemie an der Universität und einer, ein frühreifer Fünfzehnjähriger, galt als große mathematische Hoffnung. Wir alle, so wollte mir scheinen, trugen etwas von dem alten Mann in uns.
KAPITEL ZWEI
«37»
Ich wuchs unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg in einem riesigen, weitläufigen Gebäude aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Londons Nordwesten auf. Als Eckhaus an der Kreuzung Mapesbury und Exeter Road lag die Nummer 37 Mapesbury Road beiden Straßen zugekehrt und war größer als die Nachbargebäude. Die Grundform des Hauses war quadratisch, fast würfelförmig, doch es hatte einen weit vorspringenden Eingangsbereich, der mit seinem V-förmigen Vordach wie ein Kirchenportal aussah. Zu beiden Seiten ragten Erker heraus, dazwischen befanden sich Nischen, sodass das Dach eine höchst komplexe Form annahm und in meinen Augen einem riesigen Kristall glich. Es war ein roter Backsteinbau von eigenartig matter, dunkler Farbe. Nachdem ich mir ein paar geologische Kenntnisse angeeignet hatte, wurden diese Ziegel für mich zu altem rotem Sandstein aus dem Devon, und der Umstand, dass alle Straßen in unserer Nachbarschaft Namen aus der Grafschaft Devon trugen - Exeter, Teignmouth, Dartmouth, Dawlish -, unterstützte meine Vermutung.
Es gab zwei Haustüren mit einem kleinen Vestibül dazwischen, sie führten in die Diele und über einen Korridor zurück in die Küche. Diele und Korridor hatten einen Mosaikfußboden aus bunten Steinen. Von der Diele aus führte rechter Hand eine geschwungene Treppe nach oben, deren massives Geländer vom Hosenboden meiner Brüder glatt poliert war.
Manche Räume des Hauses hatten einen magischen, fast sakralen Charakter, vor allem das Sprechzimmer meiner Eltern (beide waren Ärzte) mit seinen Medizinfläschchen, der Waage zum Auswiegen der Pülverchen, den Gestellen mit Reagenzgläsern und Bechergläsern, der Spirituslampe und dem Untersuchungstisch. Alle Arten von Arzneimitteln, Lotionen und Elixieren standen in einem großen Glasschrank, der wie eine altmodische Miniaturapotheke aussah. Außerdem gab es ein Mikroskop und Flaschen mit Reagenzien für Urintests, etwa die hellblaue Fehlinglösung, die sich gelb färbte, wenn Zucker im Urin war.
Aus diesem verbotenen Raum, zu dem zwar Patienten Zutritt hatten, aber nicht meine kindliche Person (es sei denn, er war unverschlossen), sah ich manchmal einen hellen, violetten Schein unter der Tür hervordringen und roch einen seltsamen, an Seeluft erinnernden Duft, der, wie ich später erfuhr, vom Ozon stammte - dem Ozon der alten UV-Lampe. Als Kind wusste ich nicht genau, was Ärzte «tun». Der Anblick der Katheter und Bougies in ihren Nierenschalen, der Wundhaken und Spekula, der Gummihandschuhe, des Katguts und der Pinzetten - das alles wirkte wohl ziemlich furchteinflößend auf mich, aber auch faszinierend. Als die Tür einmal aus Versehen offen stand, sah ich eine Patientin auf dem Rücken liegen, die Beine hoch in Halterungen (in der «Steinschnittlage», wie ich später erfuhr). Die Geburtshilfe- und die Anästhesietasche meiner Mutter lagen immer griffbereit für den Notfall, und ich wusste genau, wann sie gebraucht wurden, weil ich dann Kommentare hörte wie: «Er ist schon fünf bis sechs Zentimeter offen» - Kommentare, die, unverständlich und geheimnisvoll, wie sie waren (handelte es sich um einen Art Code?), meine Phantasie aufs Äußerste beflügelten.
Ein weiterer geheiligter Raum war die Bibliothek, die, zumindest am Abend, vor allem das Reich meines Vaters darstellte. Eine Wand war zum Großteil mit seinen hebräischen Büchern ausgefüllt, aber es gab Bücher jeder Art - die Bücher meiner Mutter (sie liebte Romane und Biographien), die Bücher meiner Brüder und die Bücher, die wir von den Großeltern geerbt hatten. Ein ganzer Bücherschrank beinhaltete allein Stücke - meine Eltern, die sich als begeisterte Mitwirkende einer von Medizinstudenten gegründeten Ibsen-Gesellschaft kennen gelernt hatten, gingen noch immer jeden Donnerstag ins Theater.
Die Bibliothek war nicht nur zum Lesen bestimmt; an den Wochenenden wurden die Bücher vom Lesetisch zur Seite geräumt, um verschiedensten Spielen Platz zu machen. Während sich meine drei älteren Brüder in
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