Opernball
nacheinander die Lichter an. In der Prälatur stand neben dem Schreibtisch des Abtes ein kleines, würfelförmiges Bücherregal, das sich um die Mittelachse drehen ließ. Auf diesem Regal standen ein Aschenbecher und zwei Weingläser. Es gab zwar auch eine kleine Sitzgruppe im Zimmer, aber der Geringste benutzte sie nie. Immer saß er dem Abt gegenüber auf einem Sessel neben dem drehbaren Bücherregal, rauchte Zigaretten, trank Prälatenwein und sah den gestikulierenden Händen des Abtes zu.
Genau so ein kleines, drehbares Bücherregal stand in der Wohllebengasse neben dem Sofa. Darinnen lag auch sein halbfertiges Buchmanuskript. Der Geringste stellte meinen Whisky auf das Regal, setzte sich gegenüber und spielte den Abt von Kremsmünster.
»Radikales Christentum«, sagte er und fuchtelte mit der Hand in der Luft, »scheut nicht den Tod. Es führt in den Tod. Aber radikales Christentum ist nicht eines, das sich Hals über Kopf ins Abenteuer stürzt. Es denkt nach, was es will, und es überlegt genau, wie es seine Ziele am besten erreichen kann. Den Tod nicht scheuen heißt nicht, das Leben aus Jux verschleudern.« Das letzte Wort zog er in die Länge und vollführte dabei eine ausholende und nach hinten wegwerfende Handbewegung. Ich habe den damaligen Abt von Kremsmünster – vielleicht gibt es mittlerweile einen neuen – nie gesehen, nicht einmal auf einem Foto. Aber ich konnte ihn mir gut vorstellen.
Der Abt von Kremsmünster hat den Geringsten überzeugt, daß es sinnvoll sei, das Gymnasium abzuschließen. Ohne lange nachzudenken, konnte er jene Lehrer nennen, die der Geringste haßte. Er erzählte Geschichten, in denen sie wie hilfsbedürftige Kreaturen dastanden, denen man, anstatt sie zu bekämpfen, zuallererst zu einer freien Persönlichkeit verhelfen müsse.
»Gerade unsichere Menschen«, hat der Abt zum Geringsten damals gesagt, »die hilflos in der Welt stehen und nicht wissen, was sie anfangen sollen, drängt es in den Lehrerberuf. Wenn einer in betrunkenem Zustand anfängt, Balladen aufzusagen, dann wird er voraussichtlich Lehrer werden. Die Ordnungen und Werte der Schule sind für ihn der einzige Bezugsrahmen geblieben. Bei einem Maturatreffen«, so erinnerte sich der Geringste in der Wohllebengasse an die Worte des Abts, »habe ich mir die Burschen in die Prälatur eingeladen. Es endete damit, daß sie stundenlang Gedichte, vor allem Balladen und Parodien auf Balladen aufsagten. Dabei war das noch ein guter Jahrgang, mit mehreren Hochschulprofessoren darunter. Männer mit Vollbärten beginnen plötzlich zu kichern wie dreizehnjährige Mädchen. Bis zum Schluß habe ich mir das angesehen und gedacht: Mein Gott, was haben wir da gezüchtet. Nein, die Lehrer darfst Du nicht allzu ernst nehmen. Du mußt sie einfach benutzen, um weiterzukommen, aber es lohnt nicht, sich mit ihnen anzulegen. Du würdest dabei auf der Strecke bleiben.«
Zum Abschied, so erzählte mir der Geringste, habe ihn der Abt immer lange umarmt und dann ganz plötzlich weggestoßen. Er habe ihn an sich gedrückt und geschnauft. Aber plötzlich ein Stoß – und die Vertrauensseligkeit war vorbei. Der Abt war wieder der Abt und der Geringste ein ganz normaler Zögling, der Vorgesetzten respektvoll zu begegnen hatte.
Als der Geringste aus Amerika zurückkam und, um nicht ausfindig gemacht zu werden, alle paar Wochen das Quartier wechselte, gab es nur einen einzigen Einrichtungsgegenstand, den er von Wohnung zu Wohnung mitnahm, das kleine drehbare Bücherregal. Ich habe es erst in der Wohllebengasse, einem seiner letzten Quartiere, kennengelernt. Feilböck hatte uns früher schon davon erzählt. Offenbar hat er den Geringsten auch in anderen Quartieren besuchen dürfen. In der Wohllebengasse zog er manchmal Bücher aus dem Regal, um sie mir zu schenken oder nur zur Lektüre zu empfehlen. Manchmal zog er das Manuskript heraus und las ein oder zwei Abschnitte vor. Immer nur kurze Absätze, als würde der Fortgang der Arbeit Schaden leiden, wenn er zuviel davon verriet.
»Alles, was wirklich wichtig ist«, sagte er, »hat Platz in diesem Bücherregal. Den Rest kann man wegwerfen.«
Das achte Jahr war der Geringste schon in Kremsmünster, da wurde er vom Abt an der Eingangstür zur Prälatur abgeholt. Es gab keine Zigaretten, und es gab keinen Wein.
Der Abt sagte: »Du mußt nach Wels fahren ins Krankenhaus, zu Deiner Mutter.«
Die Art, wie er den Geringsten zu sich zog und seinen Hinterkopf streichelte, ließ keinen Zweifel
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