Opernball
öffnen und zu schließen war. Die schmalen Fenster der Kellerabteile auf der einen Seite saßen direkt auf dem Trottoir des Lerchenfelder Gürtels, bei den Abteilen auf der anderen Seite gingen die Fenster auf den Hof des fünfstöckigen Gebäudes. Man wußte nicht, welche Seite besser war. Auf der Hofseite war es ruhig, aber zwei mächtige Kastanienbäume hielten alles Licht ab, so daß es den ganzen Tag stockdunkel blieb und man jedes Gefühl für Tag und Nacht verlor. Auf der anderen Seite war es zwar heller, dafür donnerten direkt vor dem Fenster die Lastautos vorbei. Aber nicht einmal in den Abteilen auf der Straßenseite wurde es so hell, daß man ohne künstliche Beleuchtung hätte lesen können.
Lesen war damals die Hauptbeschäftigung des Geringsten. Er beobachtete die Welt und machte sich lesend einen Reim darauf. Sein damaliges Wiener Martyrium schuf die Grundlage unserer Bewegung, den Granit unseres Handelns. Er hat am eigenen Blut erfahren, welche Gefahr uns droht; in ihm ist in leidvoller Erfahrung der Entschluß herangereift, nicht länger zuzusehen, wie alles vor die Hunde geht. Als ich das erste Mal diesen schimmeligen, muffelnden Keller sah und all das Elend, den Jammer, den Unrat und die Verkommenheit, von der die anderen immer wieder berichtet hatten, konnte ich der Hauptsorge des Geringsten nur zustimmen: »Die gedankenlose weiße Kultur. Sie ist verloren, wenn einst aus diesen Elendshöhlen der Strom aufständischer Sklaven über sie hereinbricht und Genugtuung fordert.«
Finden Sie sein Manuskript. Dann werden Sie endlich begreifen, daß Ihr Sohn nicht der Mittelpunkt der Welt ist.
Fritz Amon, Revierinspektor
Erstes Band
Am Vormittag, es muß so gegen elf gewesen sein, kamen uns die drei Fernsehleute das erste Mal in die Quere. Wir hatten uns gerade mit Leberkässemmeln versorgt, was im Dienst nicht so gern gesehen wird, jedenfalls nicht auf offener Straße. Um den Überwachungskameras auszuweichen, fuhren wir nicht, wie sonst üblich, vor der Oper mit der Rolltreppe in die Passage hinab, sondern gingen durch die Operngasse zu einem weniger frequentierten Abgang am Rande des Karlsplatzes.
Der kleine Umweg brachte uns ins Fernsehen. An der Ecke beim Café Museum halfen wir einer Frau, den Kinderwagen in die Passage hinunterzutragen. Rollstühle und Kinderwagen müssen in Wien vor allem getragen werden. Seit dem letzten Innenminister, oder war es der vorletzte, die treten ja alle bald zurück, sind wir angehalten, bei Rollstühlen und Kinderwagen zuzupacken. Mein Kollege und ich hatten uns gerade geeinigt, wer vorne geht, da kamen aus dem Café Museum diese drei Herren heraus und machten sich gleich an ihren Umhängetaschen zu schaffen. Es war ein Kamerateam des Satellitensenders European Television, ETV. Wir schenkten ihnen zunächst keine Beachtung, schnappten den Kinderwagen und marschierten, jeder eine Semmel im Mund, der Kollege vorne, ich hinten, los. Dabei fiel mir der Leberkäse aus der Semmel und in den Kinderwagen hinein. Die Kameraleute hatten nichts Besseres zu tun, als uns zu filmen, was wir aber erst bemerkten, als wir den Wagen unten abstellten. Mein Kollege machte ihnen eine Szene. Er stand einen Dienstgrad höher als ich und kennt sich in den presserechtlichen und urheberrechtlichen Dingen besser aus. Ich wiederum bin im Strafrecht unschlagbar. So ergänzten wir uns ganz gut.
»Der Film ist beschlagnahmt«, sagte er. »Wenn Sie uns filmen wollen, müssen Sie vorher bei der Pressestelle der Bundespolizeidirektion ein Ansuchen stellen.«
Derjenige, der die wenigsten Taschen zu tragen hatte, tat ganz überrascht. »Oh, entschuldigen Sie. Ich wußte nicht, daß Ihnen das nicht recht ist. Wir wollten nur die Hilfsbereitschaft der Wiener Polizei dokumentieren. Das ist für heute abend, für den Vorspann zur Direktübertragung des Opernballs.«
Der Kameramann sagte: »Wir machen Euch berühmt. In ganz Europa wird man sehen, was bürgernahe Polizisten sind.«
Wir einigten uns schließlich darauf, die Szene noch einmal zu drehen. Die Leberkässemmeln nunmehr in den linken Seitentaschen der Uniform – die rechten Seitentaschen sind ja unten offen, um zur Pistole durchgreifen zu können –, trugen wir den Kinderwagen hinauf und noch einmal hinunter. Am Schluß, das hatten wir so vereinbart, schüttelte die Mutter jedem von uns die Hand, und mein Kollege sagte: »Gern geschehen, Gnädigste!«
Und was haben sie gezeigt?
Als ich am nächsten Nachmittag, nach 35 Stunden
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