Opfergrube: Kriminalroman (Darmstadt-Krimis) (German Edition)
schoss in Richtung Roßdorf. Er war nicht das schlechteste Fluchtauto.
Die Sanitäter rannten zu der Grube. Philipp Kaufmann machte keinen Mucks mehr. Der Notarzt sprang hinein.
Horndeich stand am Rand und sah zu, wie die Menschen in den weißen Anzügen um Philipp Kaufmanns Leben kämpften.
Horndeichs Blick fiel auf einen Eimer, der ganz in der Ecke stand und der offensichtlich für den Gestank verantwortlich war.
Er hatte abgewiegelt, als Nick Margot in Not gewähnt hatte. Er wie auch Margots Vater waren davon ausgegangen, dass Rainer und Margot ein Versöhnungsgespräch führten, nur weil die Handys der beiden abgeschaltet gewesen waren. Hätte er, Horndeich, es nicht besser wissen müssen? Nachdem Margot beim plötzlichen Auftauchen ihres Gatten einfach zusammengeklappt war.
Kurz bevor der Peugeot an Horndeichs Benz vorbeigefahren war, hatte Horndeich für Sekundenbruchteile daran gedacht, die Waffe zu zücken und auf Judith Reichenberg zu schießen. Wenn sie den Wagen lenkte, hatte sie die Waffe wahrscheinlich nicht mehr direkt auf Margot gerichtet. Er hätte es beenden können. Er hatte die Hand schon am Holster gehabt, als ihm sein Versprechen eingefallen war. Er hatte versprochen, nicht mehr den Cowboy zu spielen. Er hatte die Hand vom Holster genommen und wieder auf das Lenkrad gelegt.
Sie würden Judith Reichenberg auch so zu fassen kriegen. Er hoffte nur, dass sie Margot einfach gehen lassen und sie nicht erschießen würde. So, wie sie zuvor drei Menschen getötet hatte. Zwei. Bei Kaufmann bestand ja noch Hoffnung.
Aber Margot? Eigentlich war sie jetzt für die Reichenberg nur noch Ballast.
Und Horndeich war sich nicht sicher, ob er nicht doch hätte schießen sollen. Verdammt, es gab Situationen, da konnte man einfach nur zwischen falsch und falsch wählen.
Aber wenn Margot etwas passieren würde – das würde sich Horndeich nie verzeihen.
»Und, wohin jetzt?«
»Einfach die Klappe halten.«
Sie waren mit siebzig Sachen durch Roßdorf geheizt. Innerorts herrschte das Diktat der dreißig Stundenkilometer – was in Anbetracht der Enge der Straßen und der fast rechten Winkel in den Kurven auch gerechtfertigt war. Zum Glück waren keine alten Damen, Dackel oder Schulkinder auf der Straße gewesen.
Hinter Roßdorf bog Judith an der Ampel nach links ab. Sie wollte auf die B26 – das Tor zur großen, weiten Welt. In der rechten Hand hielt Judith immer noch die Waffe.
Margot fühlte sich auf unangenehme Weise an den Film Pulp Fiction erinnert, in dem ein Gangster die Geisel auf der Rücksitzbank mit einem Revolver bedroht. Eine Bodenwelle wurde dabei der Geisel zum Verhängnis. Immerhin zeigte die Waffe nicht mehr direkt auf sie.
Als sie auf den Zubringer zur B26 abbogen, schnallte sich Margot an. Judith tat es ihr nach.
»Kennen Sie Durst?«, fragte Judith Reichenberg.
»Ja, weshalb?«
»Ich meine richtigen Durst. Den Durst, der Sie Menschen töten lässt, um an Wasser zu kommen.«
»Nein. Solchen Durst kenne ich nicht, Frau Reichenberg.«
»Nennen Sie mich Judith. Nennen Sie mich bitte für die restliche Zeit Judith. Nein. Paula. Sagen Sie Paula zu mir.«
»Gern, Paula.« Das klang nicht gut. Das klang gar nicht gut. Das klang nach Lebensbeichte. Und dann nach dem Tod der Beichtmutter. Oder sogar dem Tod beider.
»Die Baulichter brannten, aber die Jungs waren einfach weggegangen. Alles tat mir weh. Jede Körperöffnung. Es war furchtbar, und dieses Wort trifft es nur unzureichend.«
Judith fuhr mit hundertzwanzig über die ausgebaute Bundesstraße. Für eine Flucht eher gemächlich. Insbesondere bei diesem Wagen. Aber offensichtlich spürte auch Judith, dass es bald zu Ende sein würde.
»Ich rollte mich vom Tisch, knallte auf den Boden. Ich war mit dem Fuß an den Tisch gefesselt. Mein Gott, ich dachte ich würde sterben. Diese Schmerzen im Unterleib. Ich konnte mich kaum bewegen – aber ich sah die Wasserflasche. Ich kroch in diese Richtung. Und meine Hand war zwanzig Zentimeter von der Flasche entfernt. Ich wurde ohnmächtig. Als ich zu mir kam, waren die Lichter erloschen, alle Batterien leer. Ich wusste nicht, wie lange ich ohnmächtig gewesen war. Ich wusste nur, die kommen nicht mehr zurück. Also musste ich an die Flasche. Aber ich kam nicht dran. Mein Körper war eine einzige Wunde. Und ich kam nicht an das Wasser. Ich musste aufs Klo. Kroch in eine Ecke. Und kroch wieder auf die Wasserflasche zu. Aber ich konnte sie nicht berühren. In der kommenden Zeit wurde ich fast
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