Opferlämmer
erschreckend. Da arbeiten zwei Männer an einer Schalttafel, dann gibt es urplötzlich einen Blitz, der das ganze Bild ausfüllt, und im nächsten Moment liegt einer der Kerle auf dem Rücken und steht halb in Flammen.«
»Und die Leute fürchten auf einmal, dass solche Lichtbögen nicht nur in Umspannwerken passieren könnten, sondern bei ihnen zu Hause oder im Büro«, sagte Noble.
»Wäre das denn möglich?«, fragte Sachs.
McDaniel hatte sich offenbar ausführlich über Lichtbögen informiert. »Ich glaube, ja«, räumte er ein. »Aber ich bin mir nicht sicher, wie stark der Stromstoß sein müsste.« Er schaute unwillkürlich zu einer nahen Wandsteckdose.
»Nun, wir sollten uns jetzt lieber an die Arbeit machen«, sagte Rhyme mit einem Blick zu Sachs.
Sie stand auf. »Ron, Sie kommen mit.« Pulaski gesellte sich zu ihr. Gleich darauf fiel die Haustür ins Schloss, und wenig später hörte Rhyme den starken Motor ihres Wagens anspringen.
»Da ist noch etwas, das wir im Hinterkopf behalten müssen«, fügte McDaniel hinzu. »Eines unserer durchgespielten Computerszenarien ging davon aus, dass der Täter lediglich einen Testlauf durchgeführt haben könnte, um das Stromnetz als mögliches Terrorziel in Betracht zu ziehen. Immerhin ist der heutige Anschlag recht unpräzise verlaufen, und es gab nur ein Todesopfer. Wir haben diese Daten ins System eingespeist, und die Analyse ergab, dass Methode und Ziel sich noch ändern könnten. Es spricht sogar einiges dafür, dass dies eine Singularität gewesen ist.«
»Eine was?«, fragte Rhyme, den dieser Sprachgebrauch zunehmend aufbrachte.
»Eine Singularität – ein einmaliges Ereignis. Unsere Software zur Bedrohungsanalyse hat für diese Annahme eine fünfundfünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit ergeben. Das ist gar kein so schlechtes Ergebnis.«
Rhyme überlegte kurz. »Aber heißt das nicht umgekehrt, dass die fünfundvierzigprozentige Chance besteht, jemand anders könnte irgendwo in New York durch einen Stromschlag geröstet werden? … Und womöglich geschieht das genau in diesem Moment.«
… Fünf
Das Umspannwerk MH-10 der Algonquin Consolidated Power sah aus wie eine kleine mittelalterliche Burg und stand in einer ruhigen Gegend südlich des Lincoln Center. Es war aus ungleichmäßig geschnittenen Kalksteinblöcken errichtet, die nach vielen Jahrzehnten im New Yorker Schmutz und Ruß entsprechend verdreckt und angegriffen aussahen. Auch der Stein über dem Türbogen war nicht verschont geblieben, aber die Jahreszahl ließ sich noch deutlich erkennen: 1928 .
Um kurz vor vierzehn Uhr hielt Amelia Sachs mit ihrem kastanienbraunen Ford Torino Cobra vor dem Gebäude am Straßenrand an, gleich hinter dem zerstörten Bus. Der Wagen und sein blubberndes Motorengeräusch zogen neugierige und bewundernde Blicke der Passanten, Polizisten und Feuerwehrleute auf sich. Amelia stieg aus, warf ihre NYPD-Parkerlaubnis auf das Armaturenbrett, stemmte die Hände in die Seiten und sah sich um. Auch Ron Pulaski verließ den Wagen und schlug die Beifahrertür zu. Sie fiel mit einem satten Geräusch ins Schloss.
Sachs musste daran denken, wie wenig das Umspannwerk mittlerweile in diese Gegend passte. Links und rechts ragten moderne Gebäude mindestens zwanzig Stockwerke in den Himmel, aber der alte Kalksteinbau war aus irgendeinem Grund mit Türmchen versehen worden. Die Wände wiesen lange weiße Schmierspuren auf, was offenbar den ortsansässigen Tauben zu verdanken war, die sich nach all der Aufregung bereits teilweise
wieder eingefunden hatten. Die Fenster waren aus gelblichem Glas und mit schwarz gestrichenen Gittern versehen.
Die dicke Metalltür stand offen, und der Raum dahinter war dunkel.
Ein Einsatzfahrzeug der Spurensicherung des NYPD traf mit lautem Sirenengeheul vor Ort ein. Der Transporter parkte, und drei Techniker des Hauptlabors in Queens stiegen aus. Sachs hatte schon mehrfach mit ihnen zusammengearbeitet. Sie nickte dem Latino und der Asiatin zu. Geführt wurde das Team von Detective Gretchen Sahloff. Sachs grüßte auch sie. Sahloff winkte zurück, warf einen ernsten Blick auf das Umspannwerk und ging zur Rückseite des großen Wagens, wo die drei Neuankömmlinge nun anfingen, ihre Ausrüstung auszuladen.
Sachs’ Aufmerksamkeit richtete sich auf den Bürgersteig und die Straße. Hinter dem gelben Absperrband verfolgten ungefähr fünfzig Schaulustige das Geschehen. Der Bus, der das Ziel des Anschlags gewesen war, stand vor dem Umspannwerk, leer
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