Opferlämmer
Waffe des Täters: Aus einem der Fenster, die zur Siebenundfünfzigsten Straße wiesen, hingen ungefähr sechzig Zentimeter eines dicken Kabels. Es war schwarz ummantelt, nur nicht am Ende, wo das blanke Metall an eine verschmorte Messingplatte geschraubt war. Das Ding sah wie eine ganz gewöhnliche, industriell gefertigte Leitung aus und nicht im Mindesten wie etwas, das eine so schreckliche Entladung erzeugt haben konnte.
Sachs und Pulaski gesellten sich zu der Traube aus zwei Dutzend Mitarbeitern von Homeland Security, FBI und NYPD, die sich bei der mobilen Leitstelle des FBI versammelt hatten. Manche der Leute trugen Helme und Schutzwesten, andere die Kapuzenoveralls der Spurensicherung, zivile Anzüge oder Dienstuniformen. Sie teilten die Arbeit unter sich auf. Die Gegend sollte nach etwaigen Zeugen abgesucht werden – und nach weiteren Bomben oder anderen Vorrichtungen, was bei einem Terroranschlag nicht auszuschließen war.
Ein ernster, schmalgesichtiger Mann von etwa fünfzig Jahren stand mit verschränkten Armen da und starrte das Umspannwerk an. Um den Hals trug er einen Dienstausweis der Algonquin Consolidated. Er war der ranghöchste Firmenvertreter vor Ort: ein Gebietsleiter für diesen Abschnitt des Stromnetzes. Sachs bat ihn, ihr genau zu schildern, was Algonquin mittlerweile über den Vorfall wusste. Er erstattete ihr Bericht, und sie machte sich Notizen.
»Gibt es Überwachungskameras?«
»Nein, tut mir leid«, erwiderte der hagere Mann. »Die sind eigentlich nicht nötig. Die Türen sind mehrfach verriegelt, und drinnen gibt es nichts zu stehlen. Außerdem wirkt all der elektrische Strom normalerweise wie ein Wachhund. Ein ziemlich großer.«
»Was meinen Sie? Wie ist der Täter hineingelangt?«, fragte Sachs.
»Als wir eingetroffen sind, war die Tür verschlossen. Um sie zu entriegeln, muss man eine Nummer in das Tastenfeld eingeben.«
»Wer kennt die Kombinationen?«
»Alle Angestellten. Aber so ist er nicht ins Gebäude gekommen. Die Schlösser haben einen Chip, auf dem der Zeitpunkt jeder Öffnung automatisch vermerkt wird. Diese hier sind seit zwei Tagen nicht geöffnet worden. Und das« – er wies auf das Kabel, das aus dem Fenster hing – »war vor zwei Tagen jedenfalls noch nicht da. Er muss sich auf andere Weise Zutritt verschafft haben.«
Sachs wandte sich an Pulaski. »Wenn Sie hier vorn fertig sind, überprüfen Sie die Rückseite, die Fenster und das Dach.«
Sie sah wieder den Angestellten der Algonquin an. »Gibt es einen unterirdischen Zugang?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte der Gebietsleiter. »Die ankommenden und abgehenden Leitungen dieser Station sind in Röhren verlegt, durch die kein Mensch passt. Aber vielleicht verlaufen hier irgendwelche Tunnel, die mir unbekannt sind.«
»Bringen Sie das bitte in Erfahrung, Ron.«
Dann befragte Sachs den Fahrer des Busses, der wegen einiger Schnittwunden und einer Gehirnerschütterung behandelt worden war. Sein Sehvermögen und Gehör hatten ebenfalls vorübergehende Schäden erlitten, aber er hatte unbedingt bleiben und der Polizei nach Kräften helfen wollen. Leider konnte er nicht viel beitragen. Der rundliche Mann erzählte, dass ihm das aus dem Fenster hängende Kabel seltsam vorgekommen und noch nie zuvor aufgefallen sei. Er habe Rauch gerochen und es im Gebäude mehrmals knallen gehört. Gleich darauf habe es diese fürchterliche Entladung gegeben.
»Es ging so schnell«, flüsterte er. »Ich hab noch nie im Leben etwas so Schnelles gesehen.«
Er war mit dem Kopf gegen das Fenster geschleudert worden und zehn Minuten später wieder zu sich gekommen. Der Mann verstummte und betrachtete seinen zerstörten Bus. Seine Miene zeugte von Entsetzen und Kummer.
Sachs wandte sich an die anwesenden Kollegen und teilte ihnen mit, dass sie und Pulaski nun den Tatort untersuchen würden. Sie fragte sich, ob Tucker McDaniel den Leuten vom FBI auch wirklich mitgeteilt hatte, dass das in Ordnung ging. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass irgendein hohes Tier der Strafverfolgungsbehörden sich lächelnd mit einem auf etwas einigte und dann absichtlich vergaß, dass das Gespräch je stattgefunden hatte. Doch die Bundesagenten waren tatsächlich instruiert worden. Einige von ihnen schienen verärgert zu sein, dass das NYPD diese zentrale Aufgabe übernahm, doch andere – hauptsächlich die Techniker des FBI – störten sich offenbar nicht daran und musterten Sachs sogar mit bewundernder Neugier; immerhin gehörte sie dem
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