Opferschrei
trennte. Die Streifenbeamten zogen sich zurück und sicherten den Tatort.
Pearl und Fedderman hatten die Mieter befragt, die neben, über und unter den Elzners wohnten. Keiner von ihnen konnte sich erinnern, einen Schuss gehört zu haben, doch laut Nift waren die Morde irgendwann zwischen zwei und vier Uhr morgens passiert. Dann schlief man am tiefsten – oder sollte es zumindest. Fedderman wusste, dass schreckliche Dinge passieren konnten, wenn Menschen zu dieser Zeit wach waren.
Er betrachtete das Blutbad und fühlte, wie sich nach all den Jahren, nach allem, was er gesehen hatte, sein Magen verkrampfte. Er schaute auf den Tisch.
»Was hältst du von den Lebensmitteln? Sieht so aus, als wären die Elzners gerade vom Einkaufen zurückgekommen und hätten die Sachen weggeräumt.«
Pearl warf ihm einen Blick aus ihren dunklen, mandelförmigen Augen zu. »Um drei Uhr morgens? Im Schlafanzug und Nachthemd?«
»Es ergibt keinen Sinn, ich weiß. Aber vielleicht hatten sie vorher irgendwann eingekauft und vergessen, die Lebensmittel wegzuräumen. Dann ist es ihnen wieder eingefallen und sie sind aufgestanden, um die Sache zu Ende zu bringen. Sie geraten in Streit, der Mann holt die Knarre und knallt seine Frau ab, bevor er sich selbst erschießt. Sowas passiert in der realen Welt.«
»Du meinst, in unserer Welt?«
Fedderman hatte nicht vor, irgendeine Art von metaphysischer Diskussion mit Pearl anzufangen. »Was sollen wir Egan sagen? Erweiterter Selbstmord?«
»Ich hab keine Lust, dem Arschloch irgendetwas zu sagen.«
»Pearl …«
»Ist ja schon gut … Es sieht ganz nach erweitertem Selbstmord aus. Ausgelöst durch den Druck der großen Stadt und den Freuden der Ehe.«
Fedderman atmete auf. Sie hatte nicht vor, sich gegen das System aufzulehnen und Probleme zu machen. Er hatte auch so schon Probleme genug.
»Aber das trifft es nicht hundertprozentig.«
»Hundertprozentig gibt es nicht«, sagte Fedderman. »Aber die Beweise sprechen für sich. Wir haben zwei Leichen, von denen die eine eine Pistole in der Hand hält und ein Loch im Kopf hat. Es sieht so aus, als habe er seine Frau erschossen, dann erkannt, dass er Scheiße gebaut hat, und sich selbst umgebracht. Erweiterter Selbstmord – eine wahrhaft ehrenwerte Tat. Und da unser Job eine Art Fließbandarbeit ist und ständig neue Verbrechen unsere Aufmerksamkeit fordern, haken wir den Fall am besten ab und wenden uns dem nächsten Verbrechen auf dem Fließband zu.«
»Das ständig weiterläuft, ohne je nach oben zu führen.«
Fedderman wusste, was sie meinte. Selbst wenn sie es schaffte, ihren Job im NYPD zu behalten, hatte sie keine Chance mehr, je befördert zu werden.
Sie wusste, wo sie stand. Und nachdem, was sie mit Captain Egan angestellt hatte, wussten das auch alle anderen.
Pearl und Egan.
Manchmal ertappte sich Fedderman dabei, wie er lächelte, wenn er daran dachte.
3
»Quinn war der Name, richtig?«
Der Mann, der gesprochen hatte, stand in der Tür des West-Side-Apartments. Er war mittleren Alters und hatte schütteres Haar, ein langes Gesicht mit Hängebacken, dunkle Ringe unter seinen düsteren braunen Augen und einen gepflegten Bart, der langsam grau wurde. Der große Mann, der etwas vornübergebeugt dastand, sah aus, als wäre er aus Teilen verschiedener Körper zusammengesetzt, was wiederum seinen teuren maßgeschneidertem Anzug so wirken ließ, als hätte er ihn auf einem Wühltisch gefunden.
Es waren gerade mal vier Jahre vergangen, deshalb hatte er Quinn sofort erkannt, und Quinn wusste das.
Quinn blieb auf dem fadenscheinigen Sofa sitzen.
»Ja, Quinn ist richtig«, bestätigte er Harley Renz, dem stellvertretenden Polizeichef des NYPD , unnötigerweise.
Frank Quinn war ein hochaufgeschossener, kantiger Mann, über einen Meter fünfundachtzig groß, hatte eine zweifach gebrochene Nase, ein eckiges Kinn und kurzgeschorenes schwarzes Haar, gegen das kein Kamm eine Chance hatte. Was den Leuten aber im Gedächtnis blieb, waren seine grünen, ausdruckslosen Augen. Es waren die Augen eines Cops, die auf den ersten Blick jedes Geheimnis zu erraten schienen. Heute war sein Geburtstag. Er war fünfundvierzig. Er brauchte eine Rasur, ein sauberes Hemd, einen Haarschnitt, frische Unterwäsche, ein neues Leben.
»Sie haben die Tür nicht abgeschlossen«, sagte Renz und trat in das kleine, unordentliche Apartment. »Haben Sie keine Angst, dass jemand hereinkommt und etwas klaut?«
»Wer hier etwas klauen möchte, muss schon blind
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