Optimum - Kalte Spuren
stützte sich auf ihren Ellbogen und sah sich im Zimmer um. Niemand. War Eliza schon zum Frühstücken gegangen? Warum hatte sie sie dann nicht geweckt? Der Psychopath. Wenn er sie nun geholt hatte. Aber Rica schüttelte über ihre eigene Dummheit den Kopf. Das hätte sie doch gemerkt. Sie sollte aufhören, sich so verrückt zu machen mit diesem Kerl. Bestimmt hatte Eliza recht, und es gab gar keinen Grund, sich vor ihm zu fürchten. Es war schon ziemlich wenig Blut gewesen, wenn sie es recht bedachte. Vielleicht hatten sie alle einfach überreagiert.
Rica kämpfte sich aus der Decke und schwang ihre Beine aus dem Bett. Der Fußboden war unerhört kalt. Überhaupt war es ziemlich eisig im Zimmer, als habe jemand über Nacht vergessen, das Fenster zu schließen.
Nicht, dass jetzt auch noch die Heizung ausgefallen ist, dachte Rica und angelte ihre Socken vom Fußende des Bettes, bevor sie endgültig aufstand. Ein paar Schritte brachten sie zum Fenster. Weiße Kristalle bedeckten die Scheibe vor ihr. Die winzigen Sterne hatten sich in den Ecken gesammelt, wo die alten Holzstreben sich kreuzten, und waren von da aus über das halbe Glas gewandert.
Eisblumen, dachte Rica und berührte beinah ehrfürchtig das Fenster mit dem Zeigefinger. Sie hatte noch nie zuvor Eisblumen gesehen. Ihre Mutter sagte immer, das läge daran, dass die Fenster inzwischen viel zu gut isoliert waren. Rica dagegen war der Meinung, dass die Winter früher einfach kälter gewesen sein mussten. Kälter und irgendwie besser, nicht diese grauen Schneematsch-Nebel-Dreck-Winter, die sie kannte. Nun gut, nicht, dass die Eisblumen den Winter so unendlich viel besser gemacht hätten – es war immer noch scheißkalt, und Rica fühlte sich in all der Winterkleidung eingezwängt und ungeschickt –, aber sie waren zumindest hübsch anzusehen. Auch wenn sie natürlich nicht erklärten, warum es im Zimmer so dunkel war.
Rica wischte mit der Handfläche über eine vereiste Stelle. Es dauerte ein bisschen, bis die Eisblumen getaut waren und sie einen Blick nach draußen werfen konnte.
Schnee. Weit und breit nichts als Schnee. Über Nacht mussten noch einige Zentimeter Neuschnee gefallen sein, und noch immer hatte es nicht aufgehört zu schneien. Über der vereisten Landschaft hing eine dichte, graue Wolkendecke, die jegliches Sonnenlicht aussperrte. Dazu schwebten dicke weiße Flocken langsam, aber stetig vor dem Fenster vorbei.
Eigentlich war heute eine Wanderung in den Ort hinunter geplant, doch Rica war nicht sicher, ob die stattfinden würde. Sie wandte sich vom Fenster ab und schlüpfte in ihre Klamotten. Gerade wollte sie die Tür aufstoßen, als jemand klopfte. Rica blieb überhaupt keine Zeit, etwas zu sagen, da wurde die Tür auch schon geöffnet, und Nathan steckte seinen Kopf durch den Spalt.
»Stör ich ?« Er grinste breit.
»Nein. Komm rein !«
Sobald Nathan bei ihr im Zimmer stand, wurde sein Gesicht mit einem Schlag ernst. »Hör mal, ich muss mit dir sprechen .«
Verwundert über seinen plötzlichen Stimmungsumschwung, nickte Rica und ließ sich zurück auf ihr Bett fallen. Zu ihrer Erleichterung setzte sich Nathan dieses Mal nicht neben sie, sondern hockte sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden zwischen den Betten.
»Was ist los ?« Ricas Magen knurrte, und im Grunde wäre sie jetzt gern frühstücken gegangen. »Geht es um den Psychopathen? Hör mal, ich glaube, wir haben da vielleicht was falsch –« Doch Nathan schüttelte so heftig den Kopf, dass Rica ihren Satz nicht zu Ende brachte.
»Das nicht. Nein. Ich bin mir bei ihm auch nicht sicher, aber jetzt geht es um etwas anderes .« Er verzog das Gesicht und sprach dann schnell weiter, bevor sie noch darauf eingehen konnte. »Du bist doch auch nicht von dieser Eliteschule. Nicht richtig, meine ich .« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Du hast doch sicher auch gemerkt, dass mit den Schülern hier irgendwas nicht stimmt .«
Rica kaute auf ihrer Unterlippe herum und überlegte lange, bevor sie antwortete. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen und einem ihrer Freunde aus Versehen in den Rücken fallen. Dabei wusste sie natürlich selbst, dass mit ihrer Schule was ganz und gar nicht in Ordnung war.
»Na jaaaa « , erwiderte sie schließlich gedehnt. »Es sind immerhin Internatsschüler. Und außerdem –«
»Quatsch « , unterbrach sie Nathan ziemlich unwirsch. »Du kannst mir da nichts vormachen. Ich wette, du wusstest schon an deinem ersten Tag in der Schule,
Weitere Kostenlose Bücher