Optimum - Kalte Spuren
sollte. Und was war mit dem frischen Blut an seinem Messer? Aber solange sie sich selbst keinen Reim darauf machen konnte, wollte sie Eliza nicht auch noch verunsichern. Es war ohnehin seltsam genug, dass sie, die normalerweise Angst vor ihrem eigenen Schatten zu haben schien, jetzt so ruhig und gefasst war.
Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und kramte in ihrem Rucksack nach einer Tüte Chips. »Machen wir uns einen Mädchenabend«, meinte sie, und Elizas Gesicht leuchtete vor Freude auf.
* * *
Sie wartete, bis Rica fest eingeschlafen war, bevor sie wieder aufstand. Die Holzbohlen waren kalt unter ihren Füßen, und sie schauderte einen Moment, bis es ihr gelang, mit den Zehenspitzen ihre Hausschuhe zu ertasten und hineinzuschlüpfen. Sie warf einen Blick zu Ricas Bett hinüber. Ihre Freundin hatte sich unter ihrer Bettdecke eng zusammengerollt, wie ein kleines Tier, das sich in seinen Bau verkrochen hatte. Eliza war es ein Rätsel, wie überhaupt jemand so schlafen konnte.
Ganz leise angelte sie ihren Pullover vom Stuhl und streifte ihn über. Rica regte sich nicht, als Eliza an ihr vorbei zur Tür schlich und diese aufzog. Sie huschte auf den Flur hinaus. Einen Moment lang stand sie nur vor Kälte zitternd da und fragte sich, ob das, was sie vorhatte, wirklich eine so gute Idee war. Ob sie nicht doch lieber einfach auf die Toilette und dann zurück ins Zimmer gehen sollte. Nein. Das war zwar die sicherere Variante, aber auch die für Feiglinge. Außerdem würde sie dann nie mehr erfahren.
Leise setzte Eliza sich in Bewegung. Ab und zu blieb sie stehen, um zu lauschen, doch das Haus war ruhig. Offensichtlich waren die meisten Schüler bereits ins Bett gegangen. Der Tag in Schnee und Kälte war ziemlich anstrengend gewesen, und noch hatten sich die beiden Schülergruppen untereinander nicht genügend angefreundet, um zusammen Party zu machen. Eliza erreichte die Treppe und schlich die Stufen hinunter. Unten angekommen, legte sie kurz ihr Ohr an die Tür des Aufenthaltsraums, bevor sie sie aufschob.
Es war dunkel und still, nur im Kamin glommen noch rötlich ein paar Holzscheite. Eliza fühlte sich an einen schlafenden Drachen erinnert, der einen Schatz bewachte. Aber es ist nicht dein Schatz, den ich suche, dachte sie und versuchte, ein hysterisches Kichern zu unterdrücken. Sie sah sich im Raum um. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten und sie entdeckte, was sie gesucht hatte. Der dicke blaue Ordner, den Herr Röhling vorgestern Abend zurate gezogen hatte, als er die Schüler vorgestellt hatte. Er lag verloren auf der Theke vor der Durchreiche zur Küche. Herr Röhling hatte nach dem Abendessen darin geblättert und ihn dann wohl einfach vergessen. Kein anderer Schüler hatte sich dafür interessiert – kein Wunder, enthielt er doch vermutlich nur langweilige Unterlagen –, aber Eliza war er aufgefallen, und sie hatte seitdem an nichts anderes mehr denken können. Wenn es irgendwo Antworten gab – Antworten auf die Frage, warum Nathan Rica so unheimlich ähnlich sah, warum ausgerechnet Robins Exfreundin unter den Gewinnern dieses Wettbewerbs war, warum im Wesentlichen nur Schüler von zwei bestimmten Schulen vertreten waren –, dann konnte sie sie vielleicht dort finden. Und sie wusste, sobald Rica mal über die ganze Sache mit Robin und Saskia und dem angeblichen Psychopathen und dem Skiunfall hinweggekommen war, würde es sie auch interessieren.
Eliza warf einen letzten Blick durch den Raum und machte sich dann auf den Weg zur Theke. Unterwegs legte sie sich eine Ausrede zurecht, nur für den Fall, dass irgendjemand doch noch hereinkam und sie fragte, was sie hier machte. Sie konnte natürlich immer behaupten, dass sie noch hungrig war und in der Küche nach Pizza hatte suchen wollen. Allerdings ging das spätestens dann nicht mehr, wenn sie mit dem Ordner in den Fingern ertappt wurde. Vermutlich musste sie sich dann auf eine Antwort wie »den habe ich zufällig entdeckt« und ihre Fähigkeit verlassen. Eine Aussicht, die ihr nicht gerade zusagte.
Der Boden des Aufenthaltsraums war bedeckt von allem möglichen Zeug – liegen gebliebenen Skiklamotten, Chipstüten, Besteck, Apfelresten und heruntergefallenen Karten und Würfeln. Eliza navigierte vorsichtig durch den ganzen Dreck und fragte sich, warum sich keiner die Mühe gemacht hatte, die Schüler zum Aufräumen zu ermahnen. Das war doch normalerweise das Erste, was Lehrer in dieser Situation taten. Aber an
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