Orchideenhaus
Lounge ein, wo sie die alten Sepiafotografien an den Wänden betrachtete. Darauf war das Hotel zu sehen, wie es sich zur Zeit von Harrys und Lidias unseliger Affäre präsentiert hatte.
Sie fragte regelmäßig an der Rezeption, ob Nachrichten für sie hinterlegt worden seien – ohne Erfolg. Außerdem rief sie Olav an, damit dieser ihre Auftritte organisierte. Und sie verbrachte viele Stunden am Swimmingpool, wo sie darüber nachdachte, wo sie künftig leben wollte.
Im Augenblick war sie faktisch heimatlos – es sei denn, man zählte das Cottage in Norfolk mit, was sie nicht tat. Abgesehen
davon, dass es ihren Bedürfnissen nicht entsprach, hätte es sie zu sehr an Kit erinnert.
Vielleicht war ein Neuanfang in einer Großstadt die Lösung. Ein nüchternes Apartment, das ihr nichts bedeutete, sich jedoch als Rückzugsort zwischen den Auftritten eignete.
London … Paris … New York?
Bedauerlicherweise stand die Welt ihr wieder einmal offen.
Beim Abendessen auf der Terrasse beschloss Julia, am folgenden Tag Lidias Haus noch einmal aufzusuchen. Dann würde sie diese Stadt verlassen und ein neues Leben beginnen.
»Madam Forrester«, riss die Stimme des Oberkellners sie aus ihren Gedanken.
»Ja?«
»Hier ist jemand, der mit Ihnen sprechen möchte.«
Aus der Dunkelheit trat eine sehr kleine, elegant in thailändische Seide gekleidete Frau, deren pechschwarze Haare zurückgesteckt und auf der einen Seite mit zwei Orchideen geschmückt waren.
Julia glaubte, sie zu erkennen. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, warum: Sie besaß viele ihrer eigenen Züge. Die Frau musste um die achtzig sein, doch ihre honigfarbene Haut durchzogen fast keine Falten. Sie hatte große, mandelförmige, bernsteinfarbene Augen. Julia konnte sich vorstellen, wie atemberaubend schön sie mit siebzehn gewesen war.
Die Frau begrüßte sie mit einem traditionellen wai und einem Lächeln.
»Ich bin Lidia.«
»Danke, dass Sie gekommen sind.« Julia war fasziniert von dieser Frau, die ihr selbst so ähnlich sah. »Bitte setzen Sie sich doch«, fügte sie hinzu und deutete auf den freien Stuhl ihr gegenüber.
Lidia nahm Platz. »Sagen Sie mir, warum Sie zu meinem Haus kommen und meinen Boy erschrecken?«
»Entschuldigung. Das wollte ich nicht.«
»Er sagt, er glaubt, er sieht Geist.«
Julia hob fragend eine Augenbraue. »Warum denn das?«
»Er denkt, ich gehe einkaufen und komme zurück als junge Frau. Jetzt sehe ich, warum. Sie sind mir sehr ähnlich. Wie können Sie Freundin von Harry und mir als Mädchen ähnlich sein? Ich weiß nicht, ob ich alte Dame erwarten soll oder junge.«
»Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Lidia, ahnen Sie, wer ich bin?«
Lidia musterte sie genauer. »Sie sind zu jung für meine Tochter Jasmine. Also vielleicht meine Enkelin?«
»Ja«, bestätigte Julia, der Tränen in die Augen traten. »Jasmine war meine Mutter.«
»Entschuldige, dass ich gebraucht habe, zu dir zu kommen, aber du verstehst bestimmt, dass ich schockiert bin, als ich Harrys Namen höre. Ich denke jeden Tag an ihn. Lebt er noch?«
»Nein, Lidia, er ist vor vielen Jahren gestorben. Tut mir leid.«
Lidia nickte und legte die Hände aufs Herz. »Ich weiß es hier drin, aber hoffe immer noch. Wie stirbt er?«
Julia schüttelte den Kopf. »Das war vor meiner Geburt. Meine Großmutter Elsie – oder besser gesagt, die Frau, die ich bis vor ein paar Wochen noch für meine Großmutter gehalten habe – meint, er sei an gebrochenem Herzen gestorben. «
Lidia putzte sich die Nase. »Entschuldige, es gehört sich nicht für alte Dame, in der Öffentlichkeit zu weinen. All die Jahre höre ich nichts …«
»Elsie hat dir Fotos von meiner Mutter geschickt, oder? Damit du weißt, dass es ihr in England gut geht.«
»Ja. Das ist nett von ihr. Aber die Fotos schickt Jasmines Kindermädchen Elsie. Warum nennst du sie deine Großmutter? «
Nun war klar, dass Lidia nie die ganze Wahrheit erfahren hatte.
»Lidia, das ist eine lange Geschichte, die ich selbst erst seit Kurzem kenne.«
»Verstehe. Braucht Zeit. Erzähl mir von deiner Mutter. Ist sie so schön wie du? Ist sie hier?«
»Nein.« Diese Reise in die Vergangenheit gestaltete sich weitaus komplizierter und schmerzlicher, als Julia erwartet hatte. »Meine Mutter ist schon vor zwanzig Jahren gestorben, als ich elf war«, antwortete sie und legte ihre Hand auf die von Lidia.
Lidia begann zu zittern, sagte etwas in Thai, stieß einen tiefen Seufzer aus und beruhigte sich
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