Orchideenhaus
hinzu.
Julia begann zu begreifen, was sie meinte.
»Heißt das, Xavier war betrunken?«
»Wusstest du das nicht? Als er vor ein paar Wochen zum Lunch bei uns war, hat er gesagt, er hätte es dir erklärt, und du hättest ihm verziehen.«
Als Madeleine Julias Blick sah, schlug sie eine Hand vor den Mund. »O je, hoffentlich habe ich mich nicht verplappert. Wir trinken alle gern mal einen über den Durst, oder? Schau dir die Leute heute Abend an. Ich wette, die meisten haben niemanden, der sie heimfährt! Das könnte uns allen passieren. Ich wäre die Letzte, die da mit Steinen wirft. Du bist wieder mit dem Mann zusammen, den du liebst. Kommt uns doch bald mal besuchen, ja, Schätzchen?«
Während die Party weiterlief, packte Julia alles, was hineinpasste, in die kleine Tasche, mit der sie nach Frankreich gereist war. Xavier saß am Klavier und unterhielt die Gäste.
Er würde ihre Abwesenheit erst später bemerken.
Sie stellte die Tasche neben die Schlafzimmertür und schlich auf Zehenspitzen in den Raum, in den sie sich bis dahin nicht gewagt hatte. Julia trat an Gabriels Bettchen.
Auf dem Kissen lag Pomme, Gabriels geliebter Teddybär. Sie drückte ihn an sich. Dann öffnete sie den kleinen Schrank und holte eines von Gabriels T-Shirts heraus.
An der Zimmertür verabschiedete sie sich mit einer Kusshand von dem Raum, verstaute ihre beiden Schätze in der Tasche, ging die Treppe hinunter und verließ das Haus.
57
Auf die bequeme Armlehne gestützt, blicke ich auf die Welt hinunter. Obwohl ich schon oft geflogen bin, staune ich jedes Mal wieder über dieses Wunder.
Es ist fast dunkel; auf dem Monitor vor mir sehe ich, dass wir uns über Delhi befinden, einer Ansammlung blinkender Lichter, die von zahllosen, dicht an dicht gedrängten Menschen zeugen. Jeder hätte seine eigene Geschichte zu erzählen. Die Kraft all dieser Leben erstaunt mich und macht mich demütig.
Die letzten Lichter von Delhi verschwinden, das Flugzeug überquert die riesigen, menschenleeren Gebirgszüge des Himalaja, und die Welt unter mir wird schwarz.
Im Moment, denke ich traurig, bin ich wie dieses Flugzeug; es steht mir frei zu landen, wo ich möchte. Könnte doch jemand den Flugweg für mich bestimmen! Noch ein paar Wochen zuvor war ich sicher gewesen, dass mein Leben endlich der richtigen Route folgte, doch jetzt ist es wieder vom Kurs abgekommen.
Immerhin weiß ich dieses Mal, dass ich die Kraft besitze, damit fertig zu werden, ohne Selbstmitleid und ohne Sehnsucht nach dem, was hätte sein können. Ich habe mich endgültig von der körperlichen Erinnerung an meinen Sohn verabschiedet und werde den Gedanken an Gabriel und den Schmerz über seinen Verlust im Herzen tragen, so lange ich lebe.
Was Xavier anbelangt: Das Podest, auf das ich ihn gestellt hatte, ist zusammengebrochen. Die ersten Risse bekam es, als er zurückkehrte und mir seine Geschichte erzählte. Die Enthüllung vor ein paar Tagen hat lediglich bestätigt, was ich schon wusste: Xavier ist ein schwacher, egoistischer Mensch, dem letzlich nur er selbst wichtig ist.
Er widert mich an.
Ich bedaure nicht, ihm den Rücken gekehrt zu haben. Ich konnte nicht mehr bei ihm bleiben.
Nun kehre ich wieder einmal in die Vergangenheit zurück, um meine Zukunft zu entdecken.
Nach dem Essen schließe ich die Augen und schlafe, während das Flugzeug mich sicher nach Osten bringt.
Vor dem Ankunftsbereich wurde Julia von einem adrett gekleideten Fahrer mit einem Schild erwartet, auf dem ihr Name stand. Sie schob ihren Gepäckwagen durch die Menschenmenge auf ihn zu.
»Willkommen in Bangkok, Miss Forrester. Ich bringe Sie zu Auto, bitte.« Der Fahrer nahm den Gepäckwagen, und sie folgte ihm hinaus in die heiße Luft der Stadt.
Wenig später saß Julia in einer bequemen Limousine. Der Fahrer versuchte, in gestelztem Englisch Konversation zu machen, aber Julia war nicht interessiert und schaute aus dem Fenster. Die Mischung aus Bürotürmen, blitzenden Golddächern von Thaitempeln und heruntergekommenen Holzschuppen mit Wäscheleinen faszinierte sie. Es wunderte sie, dass keine ihrer zahlreichen Reisen, unter anderem nach China und Japan, sie nach Bangkok geführt hatte.
Der Wagen hielt vor dem mit Blättern überwachsenen Eingang des Oriental Hotel. Beim Aussteigen atmete Julia den ganz eigenen Geruch der Stadt ein – den süßlichen Duft
exotischer Blumen, vermischt mit dem Gestank faulenden Gemüses. Irgendwie kam ihr dieser Geruch vertraut vor.
Als sie das
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