Mercy, Band 4: Befreit
Die Szene erscheint mir wie ein Albtraum: Ich bin in der Altstadt von Mailand, im schlimmsten Unwetter aller Zeiten. Es ist Nacht und ich stehe auf dem Dach einer riesigen weißen Kathedrale, die fast fünfzig Meter hoch über den engen, gewundenen Gässchen aufragt. Blitze zucken um mich herum, so grell, dass der Sauerstoff in der Luft verpufft.
Ein Wald aus filigranen Turmspitzen, grotesken Wasserspeiern und kunstvoll gemeißelten Steinheiligen umgibt mich, und ich fühle mich unendlich klein angesichts dieses gewaltigen Menschenwerks.
Und doch …
Ich bin die Welt und die Welt ist in mir.
Wie soll ich meine Gefühle beschreiben?
Ich bin ich, wie ich einst war, als ich erschaffen wurde.
So mächtig, schneidend, leicht.
Ich bin trunken vor Macht, bin schwindlig davon.
Zu Dingen fähig, die ein Sterblicher nicht einmal zu denken wagte.
In diesem Augenblick der Wiederauferstehung sind meine Möglichkeiten schier grenzenlos: Ich bin mächtiger als das Schneetreiben über der gotischen Dachterrasse, auf der ich gestrandet bin, mächtiger als der Wind, der mich herumpeitscht, oder die Blitze, die das Dunkel über mir zerreißen – ja, selbst mächtiger als die beiden geflügelten Dämonen, die am Himmel kreisen und mich mit schrillen Stimmen verfluchen.
Denn im Gegensatz zu ihnen wurde ich nie aus dem Himmel verbannt. Ich wurde geopfert.
Geopfert von dem Einen, Einzigen, der mich glauben machte, dass er mich mehr liebte als das Leben selbst.
Denn ich trage das Mal der Verbannung in mein Fleisch eingebrannt, aber ich bin nicht schuldig, so wie Luzifer schuldig wurde.
Ich habe durch Stolz gefrevelt, durch Eitelkeit.
Und doch bin ich kein Dämon. Auch wenn ich diese Welt nicht freiwillig betreten habe.
Ich war lange auf der Erde gefangen, was aber nichts daran ändert, dass ich bin, wer ich bin: eine Eloha, ein Erzengel.
Kein niedriger Malakh oder Bote, sondern eine der Elohim, der Höchsten und Heiligsten, obwohl ich im Augenblick menschlicher bin, als meinesgleichen es je sein dürfte.
Und der Grund, warum ich die ganze Hilflosigkeit, die Ängste und primitiven Begierden der menschlichen Spezies am eigenen Leib erfahren muss, liegt hier in meinen Armen. Ryan . Er ist klatschnass und steif vor Kälte in seiner abgewetzten alten Lederjacke, auf die der Hagel herunterprasselt, und ich spüre, wie sein Herzschlag unter meinen Fingerspitzen zu versagen droht.
„Ryan?“, sage ich mit zittriger Stimme. „Bitte bleib bei mir.“
Seine Augen sind geschlossen, seine Lippen blau vor Kälte, und nur meine starken Arme halten seinen großen, schlanken Körper aufrecht.
Verdammt noch mal! , fluche ich im Vorwärtsstolpern, während der Wind mir ins Gesicht peitscht und Ryan bleischwer in meinen Armen liegt. Du willst ein Engel sein und kannst nicht mal richtig fliegen?
Als ich auf dem Dach der Kathedrale zu landen versuchte, versperrten mir riesenhafte menschliche Gestalten den Weg. Sie thronten auf den Turmspitzen, die grimmigen Gesichter der Stadt zugewandt. Im grellen Licht der Blitze, die den Nachthimmel erhellten, sahen sie aus, als wären sie lebendig. Das brachte mich aus dem Gleichgewicht und ich verlor drastisch an Höhe.
Kein Asyl für Dämonen , schienen mir die Steinheiligen zuzurufen.
Vielleicht weil ich in ihren Augen auch wie ein Dämon aussah.
Nach all den Jahren auf der Erde war ich so verwirrt und orientierungslos, so gelähmt von meiner Flugangst, dass ich in einem falschen Winkel herunterkam. Ich fiel zu tief und zu schnell, traf auf eine Turmspitze, die einfach glatt durch mich hindurchging, aber mit voller Wucht gegen Ryans Brustkorb krachte. Der Aufprall war so heftig, dass ich Ryan aus großer Höhe auf die harten Steinplatten des Kathedralendachs fallen ließ.
Gegen Candoglia-Marmor hat Ryans zerbrechlicher Menschenkörper keine Chance. Ryan muss schwere innere Verletzungen haben, so wie er röchelt. Er wird nicht mehr lange durchhalten. Blut quillt ihm aus dem Mund.
„Ryan?“, murmle ich in sein Haar und blicke mich verzweifelt nach einem Weg nach unten um. „Hab keine Angst – alles wird gut.“
Die Welt ringsum erscheint mir plötzlich zu schnell, zu laut, als nähme ich alles durch eine Zerrbrille wahr, oder als blendete mich ein Stroboskop, das nur in meinem Kopf flackert.
Auf den ersten Blick bin ich noch dieselbe. Ich erkenne meine Gestalt, das schimmernde, ärmellose weiße Gewand, das ich immer getragen habe. Das Unwetter kann mir nichts anhaben, denn der Hagel
Weitere Kostenlose Bücher