Orchideenhaus
Alicia.
»Gut.« Julia holte zwei große Kaffeetassen aus dem Regal.
Alicia verzog das Gesicht. »Gut« war Julias Standardantwort, mit der sie neugierige Fragen abblockte.
»Hast du diese Woche mit irgendjemandem gesprochen?«
»Nein.«
»Willst du wirklich nicht wieder eine Weile zu uns kommen? Mir gefällt der Gedanke, dass du ganz allein hier bist, nicht.«
»Danke fürs Angebot, aber ich komme zurecht.«
»Julia, du siehst nicht gut aus. Du hast weiter abgenommen. Isst du überhaupt noch was?«
» Klar. Willst du nun Kaffee oder nicht?«
»Nein danke.«
» Okay .« Julia stellte die Milchflasche mit Schwung zurück in den Kühlschrank. Als sie sich umdrehte, funkelten ihre bernsteinfarbenen Augen zornig. »Ich weiß, dass du das alles nur tust, weil du dir Sorgen um mich machst. Aber ich bin keins von deinen Kindern, Alicia, und brauche keinen Babysitter. Ich bin gern allein.«
»Egal«, sagte Alicia in fröhlichem Tonfall, jedoch auch ein wenig ungeduldig, »hol mal lieber deine Jacke.Wir gehen raus.«
»Ich hab heut schon was vor.«
»Dann sag ab. Ich brauche deine Hilfe.«
»Wobei?«
»Dad hat nächste Woche Geburtstag, falls du das vergessen haben solltest. Ich würde ihm gern ein Geschenk kaufen.«
»Und dazu brauchst du meine Hilfe, Alicia?«
»Es ist sein fünfundsechzigster. Er geht in Rente.«
»Das weiß ich. Er ist schließlich auch mein Vater.«
Alicia hatte Mühe, Fassung zu bewahren. »Heute Mittag findet in Wharton Park eine Haushaltsauflösung statt. Ich dachte mir, wir könnten hingehen und sehen, ob wir gemeinsam etwas für Dad finden.«
In Julias Augen flackerte Interesse auf. »Wharton Park wird verkauft?«
»Ja, wusstest du das nicht?«
Julia ließ die Schultern hängen. »Nein. Warum?«
» Vermutlich die alte Geschichte: Schulden. Angeblich verkauft der gegenwärtige Eigentümer das Anwesen einem Typ aus der City, der gar nicht weiß wohin mit seinem Geld. Keine moderne Familie kann sich ein solches Haus leisten. Der letzte Lord Wharton hat es leider schrecklich herunterkommen lassen. Für die Renovierung ist ein Vermögen nötig.«
»Wie traurig«, murmelte Julia.
»Ja«, pflichtete Alicia ihr bei, die sich über Julias Interesse freute. »Es war ein wichtiger Teil unserer Kindheit, besonders deiner. Deswegen finde ich, wir sollten uns ein Erinnerungsstück für Dad sichern. Wahrscheinlich bieten sie sowieso nur Krempel an, und die guten Sachen landen bei Sotheby’s, aber wer weiß …«
Zu Alicias Überraschung nickte Julia. »Gut, ich hole meine Jacke.«
Fünf Minuten später lenkte Alicia den Wagen die schmale Highstreet des hübschen Küstenortes Blakeney entlang und dann nach links, um die fünfzehnminütige Fahrt nach Wharton Park zu beginnen.
»Wharton Park«, murmelte Julia.
Die Besuche in Großvater Bills Treibhaus gehörten zu ihren lebhaftesten Kindheitserinnerungen: der überwältigende Duft der exotischen Gewächse, die er darin züchtete, und die Geduld, mit der er erklärte, welcher Gattung sie angehörten und woher sie stammten. Sein Vater wie auch dessen Vater hatten als Gärtner für die Crawford-Familie gearbeitet, die Eigentümer von Wharton Park, einem weitläufigen Anwesen, bestehend aus vierhundert Hektar fruchtbaren Farmlandes.
Julias Großeltern hatten in einem heimeligen Cottage in einem hübschen Winkel von Wharton Park gewohnt, umgeben von all den anderen Bediensteten, die sich um den Grund, das Haus und die Crawford-Familie selbst kümmerten. Julias und Alicias Mutter Jasmine war in dem Cottage zur Welt gekommen und aufgewachsen.
Ihre Großmutter Elsie war genau so gewesen, wie man sich die perfekte Oma vorstellt, wenn auch ein wenig exzentrisch.
Bei ihr hatten sie immer Trost gefunden und etwas Köstliches zu essen bekommen.
Wenn Julia an ihre Zeit in Wharton Park zurückdachte, fielen ihr der blaue Himmel und die bunten Farben der Blumen ein, die in der Sommersonne blühten.Wharton war einmal berühmt gewesen für seine Orchideenzucht. Seltsam, dass diese kleinen, empfindlichen Pflanzen, die eigentlich aus tropischen Gefilden stammten, im kühlen nördlichen Norfolk gediehen.
Als Kind hatte Julia sich das ganze Jahr über auf die Sommerferien in Wharton Park mit der Ruhe und Wärme der Gewächshäuser in einer Ecke des Küchengartens gefreut, wo sie vor den heftigen Nordseewinden geschützt waren. Für sie stellten sie wie das großelterliche Cottage einen Ort des Friedens dar. In Wharton änderte sich nie etwas.
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