Orphan 1 Der Engel von Inveraray
Angelegenheit unter uns ausgemacht."
Haydon betrachtete Vincent und bemühte sich, gelassen zu wirken. Er ließ sich seine Angst um Annabelle nicht anmerken, denn dies hätte Vincents perverses Vergnügen nur gesteigert und sie alle in noch größere Gefahr gebracht. Haydon hatte diesen eiskalten Ausdruck der Genugtuung schon einmal auf Vincents Gesicht gesehen, am Tag, als er ihn angefleht hatte, Emmaline in seine Obhut zu geben.
Er war fälschlicherweise davon ausgegangen, Vincent hätte seine Rachegelüste gestillt, indem er Emmaline so lange gequält hatte, bis sie nicht mehr leben wollte. Er hatte angenommen, Vincent wäre Genugtuung widerfahren - durch den entsetzlich einsamen Tod des Kindes, dem er, Haydon, so verzweifelt hatte helfen wollen, und durch seinen darauf folgenden Absturz in einen Sumpf aus Alkohol, Schuldgefühlen und Schande. Vincent wusste von seinen riesigen finanziellen Verlusten, und Haydons Ruf als raufsüchtiger Trunkenbold war mittlerweile nahezu legendär. Doch in diesem entsetzlichen Augenblick wurde deutlich, dass Vincent nach mehr verlangte und Haydons Leid dem Mann, dessen Ehefrau er so selbstsüchtig verführt und geschwängert hatte, nicht genügte.
Nur sein Tod konnte die Erniedrigung sühnen, die Vincent hatte erdulden müssen.
„Hallo, Vincent", erwiderte Haydon den Gruß freundlich. „Ich muss sagen, dass ich nicht erwartet hätte, Sie an einem so verkommenen Ort zu treffen. Wie ist es Ihnen ergangen?"
„Der stets liebenswürdige Marquess of Redmond." In Vincents Tonfall schwang bittere Verachtung mit. „Ganz gleich, wie unerquicklich die Lage ist, Sie besaßen immer einen Hang zu ausgesuchter Höflichkeit. Sogar, als Sie sich unter meinem Dach die ganze Nacht zwischen den Schenkeln meiner Frau vergnügten, waren Sie am nächsten Morgen beim Frühstück ausgesprochen höflich und amüsant. Ich nehme an, das hat das Spielchen noch vergnüglicher für Sie gemacht, nicht wahr?"
Haydon schwieg. Er hatte nicht die Absicht, Vincent noch stärker gegen sich aufzubringen. Außerdem gab es tatsächlich keine annehmbare Entschuldigung für sein schändliches Verhalten.
„Ich würde es vorziehen, wenn alle von Ihnen die Waffen fallen ließen", wandte sich Vincent an die Gruppe.
Er zog die Brauen hoch, als Eunices Nudelholz, Doreens Bügeleisen, Simons Schürhaken und Graces Kupferpfanne krachend und scheppernd zu Boden fielen.
Oliver zögerte einen Augenblick, bevor er das Messer zu Boden gleiten ließ, das er hinter seinem Gürtel getragen hatte.
Vincent schaute Haydon und Jack erwartungsvoll an.
„Ich fürchte, ich habe nichts." Haydon hob die leeren Hände.
Vincent betrachtete Jack, der seinen Dolch geschickt im Ärmel verborgen hatte. „Ich auch nicht." Er blickte Vincent mit kaum verhohlener Verachtung an.
Die Augen des Earl wurden schmal. „Du lügst."
Jack starrte ihn finster an. „Nein, tu ich nicht."
„Ich glaube schon", erklärte Vincent ruhig. „Und wenn du deine Waffe nicht innerhalb der nächsten fünf Sekunden herausrückst, bin ich gezwungen, deiner hübschen kleinen Freundin hier ein Loch in den Kopf zu schießen."
Ein leises, ängstliches Wimmern entrang sich Annabelles Kehle.
Jack erkannte, dass er keine andere Wahl hatte, und ließ den Dolch zögernd zu Boden fallen.
Ein triumphierendes Lächeln huschte über Vincents Gesicht. „Sehr gut."
„Lassen Sie das Mädchen gehen, Vincent." Haydons Stimme war leise und bemerkenswert sanft. „Das ist eine Sache zwischen Ihnen und mir."
„Ich fand sie übrigens höchst ermüdend", stellte Vincent fest, ohne seinen Griff um Annabelle zu lockern. „Als ich die kleine Geschäftsreise in diese Gegend für Sie arrangierte, ging ich davon aus, dass diese Schwachköpfe, die ich angeheuert hatte, Sie töten würden und die Angelegenheit damit beendet sei. Stattdessen ist es Ihnen gelungen, einen von den Kerlen umzubringen und die übrigen in die Flucht zu schlagen. Ich muss zugeben, das war recht ärgerlich."
„Verzeihen Sie, dass ich Sie enttäuscht habe", bat Haydon trocken. „Ich wusste nicht, dass Sie sich so viele Umstände gemacht hatten."
„Nachdem man Sie zum Tod durch den Strang verurteilt hatte, war das nicht länger von Bedeutung. Die Vorstellung, dass Sie strampelnd am Galgen baumeln würden, gefiel mir viel besser als die eines raschen Todes durch einen Dolchhieb in einer dunklen Gasse. Hinzu kam die Freude darüber, dass Sie den guten Namen der Redmonds besudelt hatten. Es war ein
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